Menschen

Zwei sind einer zu viel 9

Gemütlichkeit, das ist was mein heißgeliebtes englisches Zimmer ausströmt. Und diese Gemütlichkeit wird jäh gestört, als wir von draußen die laute Stimme des leiblichen Vaters, Herrn Leuschner, hören.
Die Stimme wird zwar durch die gepolsterte Tür gedämpft, doch wissen Oma Trude, Oma Leuschner und ich sofort, wer da brüllt.

Es klingen die Worte Polizei, Beschlagnahme, Verfügung und Verbrecher an unsere Ohren. Ich stehe auf, mache eine Handbewegung, die bedeuten soll, daß die alten Damen sitzen bleiben sollen und habe vor hinaus zu gehen. Doch Oma Leuschner, die Mutter des da draußen Tobenden, springt auf, gibt mir einen Stupser, der so kräftig ist, daß ich in meinen Sessel zurück plumpse und reißt die Tür zur Halle auf.
Ich zappele kurz wie ein auf dem Rücken liegender Maikäfer mit den Beinen und dann bin auch ich wieder auf den Füßen und folge Frau Leuschner gemeinsam mit Oma Trude.

In der Halle bietet sich ein groteskes Bild.

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In der Haupteingangstür stehen die junge Frau Leuschner und ihr Mann, Herr Wittrock, sie müssen just in dieser Sekunde ebenfalls gekommen sein.
Mitten in der Halle wälzt sich Herr Leuschner wimmernd auf dem Boden und kassiert von seiner Mutter Tritte mit den Spitzen ihrer Schuhe, während sie mit ihrer Handtasche auf ihn einschlägt.
„Du dummer August, Du Vorprimat, wo hast Du Dein Gehirn? Dir haben sie doch in den Kopf geschissen, Du Idiot! Wie benimmst Du Dich eigentlich? Weißt Du nicht, daß da Dein Kind liegt? Das Kind, um das Du Dich nie gekümmert hast! Was fällt Dir eigentlich ein?“

Etwa 60 Silben, etwa 60 Schläge mit der Handtasche.
Keiner rührt auch nur einen Finger um dem Mann zu helfen. Die Personenzahl, die bewegungslos dem Treiben zuschaut, nimmt von Sekunde zu Sekunde zu, da auch alle meine Mitarbeiter von überall her gelaufen kommen.

„Du wirst Dich ab sofort anständig benehmen, Du wirst Dich bei allen Leuten hier entschuldigen und Du wirst jetzt Dein Kind, meine Enkeltochter, so anständig zu Grabe tragen, wie es sich gehört! Hast Du mich verstanden?“

Bei ‚Hast Du mich verstanden?‘ setzt es im Takt der Silben Tritte in den Allerwertesten des Mannes, der mit den Händen seinen Kopf vor den Schlägen geschützt hat und nun nur noch heulend am Boden liegt.

Wenn es das sprichwörtliche Häufchen Elend jemals gegeben haben sollte, dann liegt es in diesem Moment vor uns allen auf dem Boden.

Die meisten von uns stehen mit offenem Mund staunend da. So einen Auftritt hat unser ehrwürdiges Haus auch noch nie gesehen. Daß ein erwachsener Mann dort von seiner Mutter eine Abreibung bekommt, so etwas hätte ich mir im Traum nicht einfallen lassen.

Manni und Gregor springen vor, Manni nimmt Frau Leuschner beiseite, die vor Anstrengung und Aufregung keucht und schnauft. Bei alledem ist auch noch ein Henkel ihrer Handtasche abgerissen.
Gregor hilft Herrn Leuschner hoch und führt ihn, ohne das dieser sich zu uns umdreht, in den Waschraum.

„Meine Fresse!“ entfährt es Sandy und Antonia meint: „Der arme Mann!“ Frau Büser schiebt die Büroangestellten und Manni alle weg und es bleiben die beiden Omas und das Ehepaar Leuschner/Wittrock bei mir.

„Meine Güte!“ ruft Herr Wittrock, „Was war das denn?“

Oma Trude sagt: „Der hat bekommen, was er verdient hat, aber sowas von verdient, das gibt’s ja gar nicht.“

Aus der Gästetoilette hören wir Herrn Leuschner laut weinen und jammern. Es ist ein regelrechtes Wehklagen. Ich führe die beiden Frauen und das Ehepaar ins englische Zimmer und gehe rüber zu den Waschräumen.
Herr Leuschner steht vor einem Waschbecken, der Wasserhahn läuft; der Mann steht da mit beiden Armen auf das Waschbecken gestützt und hat sich offenbar reichlich kaltes Wasser ins Gesicht geklatscht. Er schaut immer wieder sein Spiegelbild an, in dem er und Gregor und ich ein von Tränen und lautem Weinen verzerrtes Gesicht sehen. Man kann gar nicht richtig verstehen, was der Mann da lautstark und von Tränen geschüttelt, alles sagt. Ach, es ist mehr ein Jaulen und Wehklagen als ein Sagen.

Gregor, der Pole, redet auf Polnisch beruhigend auf den Mann ein und schließlich reicht er ihm eines der gefaltet da liegenden Frotteehandtücher und dreht den Wasserhahn zu.
Ich bin davon überzeugt, daß Leuschner kein Wort Polnisch versteht und für mich hört sich das alles an, als ob Gregor immer ‚Tschip Tschibulski‘ sagt. Aber das spielt keine Rolle. Der Pole hat eine warme, tiefe Stimme und als Leuschner sich das Gesicht abgetrocknet hat, nimmt ihn Gregor einfach in den Arm und redet weiter auf Polnisch auf ihn ein. Leuschner hat seinen Kopf auf Gregors Schultern liegen und schnieft. Ich lasse die beiden Männer, verlasse das Bad, gehe durch die Halle und will zu den anderen ins Kaminzimmer, da sehe ich im Augenwinkel, wie Gregor den niedergeschlagenen und immer noch tränentriefenden Mann aus dem Waschraum gerade einmal um die Ecke zum Gang mit den Aufbahrungsräumen führt.

Herr Leuscher wird jetzt von Leonie Abschied nehmen müssen.

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(©si)