Geschichten

Der Schweinemann

Schweinemann

Jerry und Elain besuchen gemeinsam mit George ein befreundetes Ehepaar im Krankenhaus. Die Frau hat gerade entbunden und unsere Serienhelden wollen das Neugeborene anschauen. Kramer kommt zu spät, verirrt sich im Krankenhaus und stößt in einem Zimmer auf den Schweinemann, eine Kreatur, halb Schein, halb Mensch.

Zuvor hat Kramer einem verwirrten Patienten noch den Weg zum Aufzug gezeigt, worauf dieser Kranke zum Dach hochfährt und dann von dort in die Tiefe und somit in den Tod springt.

Das ist im Wesentlichen die Anfangshandlung der fünften Episode „Die Beschneidung“ der fünften Staffel von Seinfeld1, einer meiner Lieblingsserien, die ich schon so oft geschaut habe, dass ich dialogfest da mitspielen könnte.

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Als wir vor einigen Jahren ins Herz-Kreuz-Krankenhaus gerufen wurden, mussten wir dorthin, weil wir einen Verstorbenen abholen mussten.
Das ist ja an und für sich nichts Ungewöhnliches, denn in Krankenhäusern wird ja überproportional viel gestorben.
Unsere Anlaufstelle ist dann immer die Pathologie, die Prosektur oder wie die Abteilung zur Lagerung der Verstorbenen eben in diesem Haus genannt wird.
Doch in diesem Fall war das anders. Nicht Angehörige hatten uns beauftragt, einen an Krankheit oder Unfall verstorbenen Patienten abzuholen. Stattdessen kam der Auftrag vom Kriminaldauerdienst der Polizei.
Dieser Patient war im dritten Stock2 aus dem Fenster gesprungen.

Ebenso wie in der Seinfeld-Episode war der Mann genau auf dem Dach eines Autos aufgeschlagen. Der Opel-Kombi war ein Totalschaden, der Mann auch. Ist so.

Solche tragischen Fälle kommen vor. Sie sind mit ein Grund dafür, dass man oft in Krankenhäusern die Fenster nicht richtig aufmachen kann.
Ich weiß das aus leidlicher eigener Erfahrung. Draußen sind es an die 40 Grad, im Zimmer geht kein Lüftchen, die Patienten leiden enorm unter der Hitze, aber das Fenster kann man nur kippen.
Als Kassenpatient liege ich mit zwei anderen Herren im gleichen Zimmer. Vorne an der Tür liegt der schöne Thilo, ein 65-jähriger ehemaliger Benz-Mitarbeiter, der ständig seine Rechte einfordert und dem Pflegepersonal unentwegt mit seinem Anwalt droht. Nein, das ist falsch, Thilo droht immer mit seinen Anwälten.
Außer dem pluralistisch veranlagten Rechtschutzinhaber liegt links neben mir am Fenster Herr Kruzalkowski. Der 82-Jährige ist hochdement, weiß nicht, wo er ist und in welcher Zeit er lebt, er erinnert sich nur noch an eines: an die Funktion seines Gliedes. Und von der macht er nahezu ganztägig durch manuelle Stimulation Gebrauch.
Die Krankenschwestern3 und Pfleger haben schon alles versucht: betäubende Cremes, Mullwickel, daumenlose Handschuhe und festgestopfte Bettdecken. Nichts hilft, Herr Kruzalkowski hat nur noch eine Rille in der Platte und in der spielt immer die gleiche Melodie: Rubbel die Katz‘.

Während ich bloß Schmerzen habe, aber darauf hoffen kann, bald entlassen zu werden, worauf ich mich schon freue, denke ich darüber nach, dass der schöne Thilo, wenn er denn jetzt sterben müsste, wahrscheinlich mit einem wütenden Gesichtsausdruck dahinscheiden würde. Herr Kruzalkowski hingegen, da bin ich mir sicher, wird eines Tages mit einem befriedigten Lächeln auf den Lippen in seinem Sarg liegen. Ist doch auch was.

Jedenfalls kommt es immer wieder mal vor, dass Krankenhauspatienten, aus welchem Grund auch immer, suizidale Gedanken haben können, und diese im ungünstigsten Fall auch an Ort und Stelle umsetzen.

So war das vor etlichen Jahren auch bei dem Fenstersprung. Was aus dieser Sache geworden ist, das weiß ich nicht. Wir haben den Verstorbenen nach der Spurensicherung in das Rechtsmedizinische Institut gebracht, danach hatten wir nichts mehr damit zu tun.

Ganz anders war das zwei Jahre später im Dezember kurz vor Weihnachten.
Wieder kommt ein Anruf von der Polizei, Ziel ist auch dieses Mal das Herz-Kreuz-Krankenhaus. Manni sagt noch im Scherz: „Das ist doch da, wo immer die Leute aus dem dritten Stock springen.“
Und, was soll ich sagen? Tatsächlich ist auch diesmal ein Mann aus dem dritten Stock gesprungen.

Die Kriminaltechnik ist noch zugange, als wir eintreffen. Manni und ich müssen über eine Stunde warten. Es ist so kalt, die Leiche ist leicht gefroren oder doch zumindest stark unterkühlt.
Wegfahren kannst Du da nicht, denn die Polizisten werden schnell ungeduldig, und wenn Du im passenden Moment nicht parat stehst, rufen die einen anderen Bestatter an.

Inzwischen haben wir eine von der Staatsanwaltschaft genehmigte Leichenzelle, in der wir auch „Polizeileichen“ bei uns lagern dürfen. Das ist immer dann sehr praktisch, wenn am Todesort noch nicht entschieden werden kann, wie es mit dem Leichnam weitergeht. Dorthin brachten wir den Verstorbenen und er blieb dann auch bei uns. Anders, als ich es bisher kennengelernt und auch jetzt erwartet hatte, mussten wir ihn nicht zur Obduktion bringen, denn der Staatsanwalt erteilte überraschend schon am Ende des nächsten Tages die Freigabe zur Bestattung.

Nun hatte dieser 72-jährige Herr Svinov eine Tochter, seine einzige Angehörige.
Und leider hatte es das Herz-Kreuz-Krankenhaus versäumt, die Tochter über den tragischen Tod ihres Vaters zu informieren.
Zwei Tage nach dem Sprung wollte sie mit Blümchen und einer Schachtel Zigaretten als Mitbringsel ihren Vater besuchen und sah dann, dass ein völlig fremder Mann in seinem Bett lag.
Sie fragte dann natürlich das Pflegeteam. Doch es hatten andere Leute Dienst, niemand wusste etwas Genaues, oder niemand wollte ihr was sagen.

Stattdessen vertröstete man die Tochter auf ein Gespräch mit der Stationsärztin, die sofort kommen würde. Nach 90 Minuten fürchterlicher Ungewissheit kam die Ärztin dann endlich und überbrachte die -nun schon erwartete- Todesnachricht.

Die Ärztin gab sich alle Mühe, die Angelegenheit als Unfall darzustellen, und sprach von einem bedauerlichen Unglück.

Das wiederum brachte die Tochter dazu, bei der Polizei anzurufen, um Details zu erfahren. Bei der Polizei wurde sie aber regelrecht abgewimmelt und man gab ihr nur unsere Telefonnummer. Sie solle sich um die Bestattung kümmern, wurde ihr mit auf den Weg gegeben.

Einen Tag später erschienen dann zwei Polizeibeamte bei ihr zu Hause und überbrachten endlich die Todesnachricht. Offensichtlich wusste da die rechte Hand nicht, was die linke tat.
Diese Beamten sprachen aber nun von einem Suizid. Das könne vorkommen, wenn jemand dement sei oder eine schlimme Diagnose bekommen hätte.

Die Tochter fragte dann, ob es nicht auch sein könne, dass ein Mitpatient dement oder verwirrt sei, und den Vater aus dem Fenster gestoßen haben könne.

Das brachte die Ermittler dann auf ganz neue Ideen. So kam es, dass die Freigabe für Herrn Svinov widerrufen und eine neue Beschlagnahme ausgesprochen wurde.

Inzwischen waren seit dem Sturz drei Tage vergangen.

Es folgten weitere Ermittlungen. Dabei stellte sich heraus, dass zwischen dem Sprung und dem Auffinden der Leiche sechs Stunden vergangen waren.
In diesem Fall hatte der Bettnachbar nämlich alles mit angesehen und auch sofort die Krankenschwester herbeigeklingelt. Aber der Mann ist ein Ausländer, der kein Wort Deutsch oder Englisch sprechen kann. Die Krankenschwester konnte ihn nicht verstehen. Sie hat auch nicht bemerkt, dass das Bett nebenan leer war.
So wurde der Springer erst nach längerer Zeit entdeckt, als unten zwei Schwesternschülerinnen zum Rauchen auf den kleinen Innenhof gingen.

Die Situation ist also die:
An einem Donnerstagabend springt Herr Svinov aus dem Fenster seines Krankenzimmers.
Seine Leiche wird erst am frühen Freitagmorgen entdeckt.
Der Leichnam kommt zum Bestatter unter Verschluss.
Am Freitagabend kommt die Freigabe zur Bestattung von der Staatsanwaltschaft.
Am Samstag kommt die Tochter des Verstorbenen ahnungslos ins Krankenhaus.
Sonntags kommen Polizeibeamte zur Tochter und überbringen die verspätete Todesnachricht.
Montagmorgens wird die Freigabe widerrufen, der Verstorbene beschlagnahmt.
Wir bringen den Verstorbenen noch im Verlauf des Montags zur Rechtsmedizin.
Am Dienstag wird er obduziert.

Die Kripo möchte nämlich wissen, ob der Sturz todesursächlich war. Wenn der Mann nämlich nicht durch den Sprung gestorben ist, könnte er schwer verletzt erfroren sein. In diesem Fall hätte dann das Krankenhaus eventuell eine Mitschuld.

Die Tochter tut uns sehr leid. Das ganze Verwirrspiel hat ihr sehr zugesetzt. Zudem befindet sie sich in einer nahezu aussichtslos prekären finanziellen Lage. Alleinerziehend, zwei kleine Kinder, kein Job.
Erstmal beruhige ich sie wegen der Finanzen. Das kriegen wir hin.
Ich merke schnell, dass die junge Frau ihren Vater ohne Ende liebt, aber jetzt doch eher daran interessiert ist, ihn schnell, günstig und ohne großes Brimborium unter die Erde zu kriegen.
Sie sagt: „Ich habe schon das Grab von meiner Mutter an der Backe. Das muss ich nun pflegen. Eigentlich wollte das ja alles mein Vater machen, aber der hat ja dann auch alles auf einmal gekriegt: Herzinfarkt, Schlaganfall und jetzt auch noch Blasenkrebs. Der war ja Ende total durcheinander, überhaupt nicht mehr er selbst. Er hat mich immer gefragt, ob ich seine Tochter kennen würde. Der wusste gar nicht mehr, wer ich bin.
Noch ein Grab will ich mir nicht aufhalsen. Am liebsten wäre mir, wenn man die Urne in den Wald schütten könnte. Ich habe alles, was ich brauche, in meinem Herzen, einen teuren Quadratmeter auf dem Friedhof brauche ich nicht.“

Ich rechne mit spitzem Stift und schlage ihr vor, doch eine Seebestattung zu machen. Kein Grab, kein Grabstein und viel billiger als im Wald. Mir liegt das Angebot eines Seebestatters vor, der für unter 300 Euro anonyme Seebestattungen ohne Begleitung durch die Angehörigen durchführt. Günstiger geht’s nicht.

Vorsichtshalber rufe ich meinen Bestatterkollegen Oli an. Der hatte nämlich ein halbes Jahr zuvor sehr schlechte Erfahrungen mit einem günstigen Seebestatter gemacht. Obwohl er und seine Frau den Bestatter in Hamburg persönlich aufgesucht hatten, um ihn, sein Schiff und seine Büros kennenzulernen, hat der Typ sie reingelegt. Statt die Urnen, wie versprochen und vertraglich zugesichert, gesammelt aufs Meer hinauszufahren, hatte der betrügerische Seereeder die Urnen einfach in einer Gewerbehalle gestapelt und nach und nach im Restmüll ausgeleert.

Doch dieses Angebot, das mir vorlag, schien durch und durch seriös und koscher zu sein. Hinzu kämen noch die Kosten für das Rhein-Taunus-Krematorium, die von der Sarglieferung, über die Abholung bis hin zur Einäscherung alles für einen guten Komplettpreis abwickeln.
Die Überführungen und die Aufbewahrung hier vor Ort würde die Staatsanwaltschaft übernehmen müssen.

Bis auf ein paar Euro verzichtete ich auf meinen Gewinn, und so kamen wir auf eine unschlagbar günstige Summe von 800 Euro. Das könnte die Tochter in Raten zu 40 Euro abbezahlen.

„Nee, ganz so schlimm ist es nicht“, beruhigte sie mich. „Mein Vater hat noch so um die 2.500 Euro auf dem Konto. Davon kann ich das auf einmal bezahlen, und der Rest reicht dann für die Entrümpelungsfirma, das habe ich schon geklärt.“

Bei der Obduktion kam nichts heraus. Es blieb beim Suizid.
Wie erwartet, wurde Herr Svinov abgeholt, eingeäschert und dann später dem Meer übergeben.

Und wie kriegen wir jetzt gemeinsam die Kurve? Die Kurve zwischen Seinfeld, dem Schweinemann und unserem toten, alten Herrn?
Nun, die Parallelität liegt im Nachnamen des Herrn Svinov, der bedeutet nämlich so viel wie Schwein.

Bildquellen:

  • schweinemann2_800x500: Peter Wilhelm KI

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(©si)