Geschichten

Die hässliche Fratze des Herrn Böckel

Herr und Frau Böckel sind auf den ersten Blick ein liebenswürdiges älteres Ehepaar. Sie schon etwas wackelig auf den Beinen, aber resolut und durchaus noch fix im Kopf; er groß, breit, gutaussehend und mit einer wohltönenden, tiefen Stimme ausgestattet.
Seine Vorliebe für volkstümliche Lodenkleidung und sein weißes Haar lassen ihn wie einen Förster im Ruhestand wirken. Der etwas knorzige Gehstock unterstützt dieses Bild noch.

Herrn Böckels Schwester Gertrud hat beschlossen, ihren vor 20 Jahren verstorbenen August nicht mehr länger zu vermissen und nicht mehr länger seinen Tod bejammern zu wollen, und hat es vorgezogen ihm in die ewigen Jagdgründe zu folgen. „August, jetzat bin isch bald bei Dir!“ sollen auch ihre so ziemlich letzten Worte gewesen sein. Das sagt zumindest Herr Böckel; seine Frau kolportiert eine andere Version des Letztwortigen: „Hannelore, isch hebb‘ noch Wäsch‘ in der Maschin‘!“

hausordnungÜberhaupt ist Frau Böckel für die jeweils andere Version dessen, was ihr Gatte sagt, zuständig.

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Ich frage Herrn Böckel nach seinem Beruf und er antwortet: „Gipsermeister.“

Das sagt er nicht ohne Stolz und fügt hinzu: „Zwanzig Lehrlinge hab ich zu Gesellen gemacht und hier im Ort gibt’s kein Haus, in dem meine Firma nicht schon drinne war.“

„Ist bei mir auch so“, sage ich.

„Ach sind Sie auch Gipser gewesen?“

„Nein, aber wir kommen auch in jedes Haus, früher oder später.“

Frau Böckel unterbricht uns mit der nächsten Versionskorrektur: „Gipsermeister! Ja, ja, Gipsermeister! Als wir 1946 aus dem Riesengebirge hierher gekommen sind, hatten wir nichts außer zwei Pappkoffern. Und im Durchgangslager hat einer nach den Berufen gefragt. Da hat der Grundmeiers Jockel zu meinem Hans gesagt: ‚Zwei Zeugen braucht man. Wenn Du und der Hermann sagt, daß ich Malermeister bin, dann bezeuge ich Dir auch einen Beruf‘. Und so ist der Jockel Malermeister geworden, mein Hans wurde Gipser und der der Hermann wurde Tischler. Den Meisterbrief von der Handwerkskammer gab’s zwei Jahre später ohne was. So war das!“

„Meister ist Meister!“, knurrt Herr Böckel und ich amüsiere mich über die beiden alten Herrschaften.

Nachdem wir die notwendigen Üblichkeiten hinsichtlich von Schwester Gertruds Bestattung besprochen hatten, fragt Herr Böckel: „Und wie sieht’s jetzt aus mit dem Erbschein? Krieg ich den gleich von Ihnen? Ich brauch den, wegen der zwei Häuser meiner Schwester.“

„Wissen Sie“, ergänzt seine Frau: „Meine Schwägerin hat nämlich mit ihrem Mann zusammen ein Sechsfamilienhaus gebaut und später noch ein Mietshaus dazu geerbt. Wir hatten ja auch Glück. Schon 1959 konnten wir ein schönes Haus in der Kronenstraße kaufen, das war die Straße, die vorher Adolf-Hitler-Straße geheißen hat, Sie werden sich erinnern.“

„Nee, tu ich nicht, so alt bin ich noch nicht“, entgegne ich.

„Stimmt ja, Sie müssen nach dem Krieg geboren sein, nicht wahr?“

Es kränkt mich ein bißchen, daß die Frau es auch nur in Erwägung zieht, ich könne schon so alt sein, aber gut, es war spät letzte Nacht…

„Jedenfalls haben wir uns das Haus in der Kronenstraße gekauft, ist ein Haus mit acht Wohnungen, da haben wir zwei Wohnungen zusammengelegt und die anderen vermietet…“, sagt sie und er ergänzt: „Alles gute Mieter. Alle älter und ganz ruhig und sauber, alles Nichtraucher und keine Tiere.“

„Keine Tier, das ist die Hauptsache!“, sagt seine Frau.

„Und geerbt haben wir auch noch was und gekauft auch noch“, freut sich Herr Böckel.

„Ja, insgesamt haben wir vier Mietshäuser und jetzt noch die zwei von meiner Schwägerin Gertrud, das ist unsere Altersversorgung.“

„Schön“, sage ich, was soll ich auch sonst sagen.

Etwa zwei Wochen später bin ich bei den Böckels zu Hause. Frau Böckel hat Donauwellen gebacken und leckeren Kaffee dazu gekocht. Aus Dankbarkeit, wie sie sagt, weil bei der Beerdigung von Gertrud alles so schön war. Die Rechnung wollen sie auch gleich bezahlen.
„Das geht doch sicher ohne Rechnung“, sagt Herr Böckel und zählt mir einen deutlich reduzierten Betrag in bar auf den Tisch.

Nun ist ja rund um Tod, Trauer und Bestattung die Farbe Schwarz durchaus die vorherrschende, aber nicht beim Bezahlen der Rechnung. Man kann sicher in jedem Gewerbe irgendwie mal was an der Steuer vorbeitricksen, aber im Bestattungsgewerbe ist das sehr, sehr schwer, denn kaum etwas läßt sich leichter ermitteln, als die Anzahl der Sterbefälle, die ein Bestatter abgewickelt hat, man rechnet einfach nur die Anzahl der gekauften Särge nach.

„Nee, das geht leider nicht“, sage ich und um ihm gleich den Wind aus den Segeln zu nehmen, füge ich noch hinzu: „Die Rechnung ist schon beim Steuerberater durchgelaufen.“

Er schluckt die bittere Pille mit hochgezogenen buschigen Augenbrauen und schnaubt dabei, als er mit mehrfachem Kontrollblick auf die Rechnung den fehlenden Betrag ganz exakt abzählt. Man spürt, wie es ihn schmerzt, so viel schönes Geld hergeben zu müssen und der Trennungsschmerz treibt ihm sogar die eine oder andere Schweißperle auf die Stirn. Zu guter Letzt nimmt er einen Zehner wieder weg und meint: Ein bißchen was geht immer.“

Jau, ein bißchen was geht immer und wenn es den alten Herrn glücklich macht – was soll’s?

Während ich dann Frau Böckels herrliche Donauwellen probiere, entdecke ich an der Wand den eingerahmten Meisterbrief. Mein Blick wandert entlang einer Galerie von Bildern, die das Ehepaar Böckel in den unterschiedlichsten Urlaubsorten zeigt, bis zum Wohnzimmerschrank. Ein schöner, schwerer Eichenschrank, den ich gleich wieder – eine Berufskrankheit – in Särge umrechne. Aus ihm hätte man sicher acht Särge machen können. Ich betrachte Autos auch immer nur unter dem Aspekt, ob auch hinten ein Sarg hineinpaßt. Einmal Bestatter, immer Bestatter, auch heute noch.

Oben auf dem Schrank reihen sich an die dreißig Leitz-Ordner1 aneinander.
„Ach“, sage ich: „Sind die noch von ihrem Betrieb?“, und deute mit der Kuchengabel auf die Ordner.

„Wo denken Sie hin“, ich bin schon so lange in Rente, die Sachen von der Firma habe ich längst entsorgt. Das heißt zwei oder drei Ordner habe ich noch im Keller, wegen der Prozeßakten, da lese ich manchmal gerne noch mal drin. Nein, das da oben sind meine Mieterakten.“

„Das ist das Hobby von meinem Mann. Der ist ja schon zwanzig Jahre zu Hause und ich hab immer gesagt: ‚Hans‘, hab ich gesagt, ‚Du mußt Dir was suchen, damit Du mir nicht den ganzen Tag gelangweilt im Weg rumsitzt, such Dir ein Hobby‘, hab ich gesagt, ‚geh in einen Schachverein oder schaffe Dir einen Garten an‘. Aber dann war das mit der Frau Renners, die hat die Badewanne überlaufen lassen und da hat er ihr den Prozeß gemacht.“

„Ja, das war eine tolle Sache, die hat bis vorletztes Jahr noch bezahlen müssen“, freut sich Herr Böckel und steht auf, um mit seinem Stock gekonnt einen Ordner vom Schrank zu holen. Dazu steckt er die Spitze des Stocks in das Loch im Ordnerrücken, zieht den Ordner bis an die Kippkante und fängt ihn beim Runterfallen geschickt mit der anderen Hand auf.

„Hier haben wir Band Nummer 3! Da sind die Prozesse auf der Wandalenstraße2 drin.“

Frau Böckel lacht laut und freut sich über den Witz, den ich nicht auf Anhieb verstehe, den sie aber sogleich erklärt: „Eigentlich heißt die Walonenstraße, aber mein Mann sagt immer Wandalenstraße …“

„… ja, weil die alles kaputt machen, die Mieter. Mieter machen immer alles kaputt, das ist die Hölle, glauben Sie mir! Als Vermieter, da hast Du es nicht leicht, nein, wirklich nicht, Mieter wollen immer alles von einem, ständig soll man irgendwelche Reparaturen oder Renovierungen bezahlen. Die glauben, wir Vermieter, wir könnten Geld scheißen. Dabei sind sie es, die mutwillig alles kaputt machen, jawoll, mutwillig.“

„Und das hat sich mein Mann nicht gefallen gelassen getan (sic!), der hat sich gewehrt. Gott sei Dank haben wir eine gute, alte Rechtsschutzversicherung, die das meiste übernimmt“, erklärt Frau Böckel und ihr Mann wehrt ab: „Meistens gewinne ich ja.“

Doch wieder ist eine Situation eingetreten, in der seine Frau eine andere Version zum Besten gibt: „Ganz so ist es ja nicht, wenn Du immer gewinnen würdest, bräuchten wir ja die Versicherung nicht so oft.“

„Egal“, ruft er und lacht: „Ist doch völlig egal, ob ich am Ende gewinne, es geht um den Prozeß, da kann ich denen dann noch einmal vor Gericht meine Meinung sagen. Und selbst wenn der Richter entscheidet, daß die weiter da wohnen dürfen, die meisten ziehen ja doch dann aus, wenn sie nicht schon raus sind. Ich erhöhe die Miete, passe die Hausordnung an und schon schwuppt sich das!“

„Ja, so ist er ja auch die Meiers losgeworden. Die haben oft Besuch bekommen. Was meinen Sie, was so dauernder Besuch für’n Dreck ins Haus trägt. Das geht ja mal gar nicht. Da hat er dann geschrieben, daß sie das zu unterlassen haben. Stellen Sie sich vor, die haben den Brief einfach ignoriert.“

„Aber nicht mit uns!“, erzählt Herr Böckel regelrecht begeistert: „Unser Neffe Harald fährt dann immer mit mir hin und ich stelle den Brief noch einmal unter Zeugen persönlich zu, immer um 21 Uhr, da ist jeder zu Hause. Da kann dann keiner sagen, er habe meine Anweisungen nicht bekommen.“

Ich schüttele vorsichtig den Kopf: „Sie können doch aber Ihren Mietern nicht verbieten, Besuch zu bekommen.“

Er wehrt ab und macht mit den Armen eine Bewegung, die andeutet, wie weit er das von sich schiebt: „Niemals! Wir sind doch gutherzige Menschen. Wer bei uns Mieter ist, der hat es gut. Wir kümmern uns doch um alles. Da kann jeder Besuch bekommen, soviel er will. Ich würde mal sagen, so einmal, zweimal die Woche, das ist ja normal. Aber öfterster (sic!) geht natürlich nicht. Ich lasse doch nicht die Haustüre erneuern und die Treppen streichen, damit die von zuviel Besuch abgenutzt wird. Bei den Meiers hat das ja Überhand genommen, da kam ja manchmal zweimal am Tag jemand, vor allem abends.“

„Ja und?“

„Das geht doch nicht!“

„Aber Sie können es denen doch nicht verbieten.“

„Hat der Anwalt von den Meiers auch gesagt. Daß das Parasiten sind, das haben wir dann zu spüren gekriegt, die sind sogar in den Mieterbund gegangen. Da war es dann ja aus, da war ja dann das Vertrauensverhältnis gestört. Da haben die den nächsten Brief gekriegt.“

„Was stand denn da drin?“, frage ich.

„Da stand drin, daß die Hausordnung geändert wird. Ab sofort mußte die Haustür um 17.30 Uhr abgeschlossen werden, wegen Diebstahlschutz und Sicherheit. Und die Meiers wohnten ganz oben, und abgeschlossen hat immer die Frau Sauter vom Parterre, die ist eine gute Mieterin, die hat das sehr zuverlässig gemacht. So, und dann mußten die Meiers immer vom fünften Stock runter und aufschließen, wenn Besuch kam. Was meinen Sie, was die gekocht haben vor Zorn. Und frech geworden ist die Frau Meier zu mir. Ich sei ein Tyrann, hat die gesagt.“

„Du mußt alles erzählen“, fordert Frau Böckel ihren Mann auf: „Los erzählt das mit dem Camping!“

„Ja, die haben so einen Campingwagen an ’nem See stehen, und die Frau Meier hat zu mir gesagt, daß sie nur deshalb jedes Wochenende zu dem Campingwagen fahren, weil sie dort feiern wollen und Besuch empfangen wollen, das ginge ja in unserem Haus nicht. Stellen Sie sich das mal vor! Da opfert man sich auf für die Mieter, da schreibt man sich die Finger wund mit der Hausordnung, damit alle es gut haben bei einem, und dann sagt die sowas!“

„Mein Mann war ja fix und fertig!“

„Hab ich mir aber nicht gefallen lassen. Ich habe sofort den Ordnungsplan umgeschrieben. Die Mieter müssen ja im Wechsel die Treppe putzen, der Hof kehren, die Mülltonnen rausstellen und den Keller putzen. So, und dann habe ich den Plan so geändert, daß die Meiers in der ersten Woche des Monats am Wochenende mit der Treppe dran waren, in der zweiten mit dem Keller, also bei denen war das ja mehr der Dachboden, weil die oben wohnen, und in der dritten Woche waren die mit den Mülltonnen dran und in der letzten mit dem Hof. Ich habe reingeschrieben, daß das samstags bis 12 Uhr mittags erledigt sein muß. Da war es aus mit der Campingwagenfahrerei, da mußten die jede Woche was machen.“

Frau Böckel reibt sich die Hände und juchzt wie ein kleines Mädchen vor Freude: „Tja, und da mußten die sich entscheiden, entweder Hausordnung einhalten oder zum Camping fahren.“

Kopfschüttelnd sage ich: „Lassen Sie mich raten, die sind lieber zum Camping gefahren.“

Herr Böckel klopft sich vor Begeisterung auf die Schenkel: „Genau! Und zack, da hatten die die erste Abmahnung, und dann die zweite und dann die dritte. Sechs Wochen später hatten die die Kündigung vom Anwalt und die Rechnung vom Reinigungsdienst. Ich habe meinen Neffen Harald beauftragt, stellvertretend für die die Hausordnung zu erledigen und der hat das in Rechnung gestellt.“

„Und das sind alles solche Streitigkeiten, die Sie da in diesen ganzen Ordnern dokumentiert haben?“, staune ich.

„Ach was, nur die letzten vier Jahre, alles andere ist auf dem Dachboden. Oft zieht sich das ja ewig, bis ich die raus habe, aber am Ende ziehen sie alle aus, alle! Nee, nee, mir macht da keiner was vor. Wenn nötig, gehe ich bei denen in die Wohnung …“

„Was machen Sie? Sie gehen einfach in die Wohnungen Ihrer Mieter?“

„Ja, aber sicher doch! Ich weiß doch, wann die arbeiten sind!“

„Das darf man doch gar nicht!“

„Sagt wer?“

„Das ist doch Hausfriedensbruch oder sowas.“

„Ach was, das sind doch meine Häuser, meine Wohnungen!“

„Hans, Du mußt das auch richtig erzählen. Also, mein Mann und ich gehen nur mit Zeugen da rein. Das ist ja auch klar. Gucken Sie, in jedem Haus gibt es mindestens einen, der gerne für uns auf die Ordnung achtet und uns alles meldet. Und wenn wir dann in die Wohnungen von den Mietern gehen, um mal wieder alles zu fotografieren, dann nehmen wir diese Person mit, als Zeugen, und die freut sich dann, daß sie auch mal sehen darf, was in den Wohnungen der Nachbarn so drin ist, das ist dann immer eine richtig schöne kleine Belohnung für die.“

„Ich fasse es nicht …“, kann ich nur sagen und habe inzwischen jede Sympathie für die beiden verloren. Ich habe hier regelrechte Kotz-Vermieter vor mir…

„Ja, was wollen Sie denn? Wenn man sich nicht kümmert, dann fressen die einem die Haare vom Kopf, dann reißen die einem die Bude über dem Kopf ab. Was meinen Sie, was wir da immer alles entdecken. Einmal haben wir einen Hamster entdeckt, stellen Sie sich mal vor, ein Nagetier! Das haben die alle unterschrieben, daß keine Tiere erlaubt sind, auch keine kleinen. Erst isses ein Hamster, dann haben ’se ein Meerschweinchen und ruckzuck ist daraus ein kleiner Hund geworden.“

„Das müssen Sie mir mal vormachen, wie man aus einem Meerschweinchen einen kleinen Hund macht. Also umgekehrt, daß also so ein kleiner Hund ein Meerschweinchen sozusagen verschwinden läßt, das könnte ich mir vorstellen, aber aus einem Meerschweinchen …“

„Sie sind sehr albern!“, findet Frau Böckel.

„Ach was, ich determiniere gerade nur den Grad meiner bevorstehenden Hyperemesis.“ 3

Herr Böckel legt seiner Frau beschwichtigend die Hand auf den Arm: „Laß mal, der Mann ist ja auch Vermieter, der versteht uns schon.“

Nein, ich verstehe die beiden nicht. Das sind zwei alte Leute, die es sich zur Lebensaufgabe gemacht haben, ihre Mieter zu tyrannisieren, die eine diktatorische Herrschaft über ihre Mietshäuser führen und deren einziges Lebenselixier die ständigen Auseinandersetzungen mit ihren Mietzahlern ist. Und das sage ich den Böckels auch: „Sie können es doch nicht als Ihr Hobby betreiben, diese ganzen Leute zu schikanieren.“

„Das tun wir doch auch nicht“, ruft Frau Böckel und zieht die Platte mit den Donauwellen ein Stück von mir weg. Offenbar bin ich nicht mehr würdig, ihr Gebäck zu essen.

Herr Böckel rückt auch etwas von mir ab: „Also wirklich, Sie verkennen das. Wir opfern uns auf, jawoll! Die meisten Mieter sind ja ruhige ältere Leute wie wir und die müssen wir ja von den Mietnomaden schützen!“

Vorsichtshalber stecke ich mein Geld ein, das immer noch auf der quittierten Rechnung auf dem Tisch liegt. Ich halte es für besser, mich zu verabschieden, doch ich habe die Rechnung ohne das Vermieter-Ehepaar gemacht. Durch meine kritischen Äußerungen sehen sie sich genötigt, sich und ihr Verhalten zu erklären und zu rechtfertigen.

„Sie haben ja ein völlig falsches Bild von uns“, ruft Frau Böckel: „Hans, sag doch auch mal was!“

„Ich sag‘ doch schon die ganze Zeit was!“

„Sag ihm das mit dem Wasserschaden!“

Herr Böckel hat den Gehstock herumgedreht und drückt mich mit dem Griffstück auf meinen Sessel zurück. „Setzen Sie sich doch noch einen Moment! Dauert nicht mehr lange, aber das muß ich Ihnen erzählen, dann wird vieles deutlicher.“

Okay, ich gebe nach, bleibe brav sitzen und Frau Böckel belohnt meine Tapferkeit lächelnd mit einer weiteren Tasse Kaffee. Ihr Mann erzählt: „Da hatten wir in einem Haus einen Wasserschaden, wahrscheinlich vom Dach her. Jedenfalls war das Wasser durch die Decke gelaufen, an der Wand runter und durch die nächste Decke. Zwei Wohnungen ruiniert, an beiden Decken jeweils fast zwei Quadratmeter große Wasserflecken.“

„Ja und? Das müssen Sie dann als Vermieter machen lassen.“

„Ja, ja, und ein Ei aus dem Konsum! Nix da! Wo kämen wir denn da hin? Wir haben den Mietern die Wohnungen in ordnungsgemäßen Zustand übergeben und so wollen wir die auch wiederhaben. Außerdem sind die doch alle versichert.“

„Aber es war doch eindeutig, daß das vom Dach kam.“

„Ja, das wissen Sie, das wissen wir, aber das wissen die doch nicht!“, Herr Böckel lacht laut: „Wir sind doch nicht blöd! Nee, ich bin dann hin, als die sich wegen der Flecken gemeldet haben und habe gesagt, das käme, weil die nicht richtig lüften. Dann habe ich denen die Hausordnung mit der Lüftungsanordnung nochmals gegeben, die haben die beim Einzug unterschrieben. Stoßweise, kräftig lüften! Und von meinem Geld hatte ich für beide Mietparteien eine Flasche mit Schimmelspray gekauft. ‚Wenn’s Ihnen hier nicht paßt, können sie ja ausziehen!‘, hab ich denen gesagt, und das hat gesessen, da haben die das dann auf ihre Kosten machen lassen. Man muß nur wissen wie!“

„Das gibt’s doch nicht!“, sage ich.

„Hans, Du mußt das dem Mann richtig erzählen. Sag das mit den Heizungen!“

„Ja genau, die Heizungen! Die Mieter sind ja logischerweise verpflichtet, alle sieben Jahre die Heizkörper zu streichen. Weil wir da immer hinterher sind, machen die das auch. Aber ich habe mir so einen ausziehbaren Stab mit einem Spiegel besorgt und da kann ich die Heizungen von hinten angucken. Und was meinen Sie, was ich da immer entdecke?“

„Wahrscheinlich, daß die Heizungen von hinten nicht ganz so toll gestrichen sind“, mutmaße ich.

„Geeeenau! Und ich sage dann immer: ‚Heizungen funktionieren mit Wasser und wenn die nicht rundherum sauber gestrichen sind, kann das Korrosion geben und die können undicht werden oder platzen, und dann haben wir die Sauerei. Die Leute kriegen dann ’ne Abmahnung und ’ne Frist …“

Ich unterbreche ich: „Und lassen Sie mich raten, Ihr Neffe Harald kommt dann und streicht die Heizkörper auch von hinten und schreibt eine Rechnung.“

Frau Böckel staunt: „Woher wissen Sie das?“

„Kann ich mir denken. Wenn man Ihnen zuhört, dann weiß man ungefähr, wie Sie das machen.“

Herr Böckel stampft mit seinem Stock auf: „Jetzt hören Sie mir doch mal zu! Die machen alles kaputt, die lassen alles verlottern und verkommen. Am Ende müßte ich einem dieser Blutsauger noch die Kaution zurückzahlen, das hat es in den ganzen Jahrzehnten nicht ein einziges Mal gegeben. Bei einer unserer Kontrollen haben wir entdeckt, daß der Mann im Schlafzimmer seine Socken hinschmeißt, der macht die nicht auseinander, sondern da liegen die ausgezogenen Socken wie ein Knäuel, halb auf links gedreht! Stellen Sie sich das doch mal vor! Wissen Sie jetzt, was ich meine?“

„Nein!“

„Das ist doch ganz einfach! In den Socken staut sich die Nässe vom Fuß und während die Leute auf der Arbeit sind, liegen diese feuchten Socken im Schlafzimmer und dünsten die Feuchtigkeit aus. Und was ist die Folge? Ich sag’s Ihnen: Schimmel! Und das ist nur eins! Das geht so weiter, endlos! Wir könnten Ihnen Sachen erzählen, das würden Sie gar nicht glauben! Was meinen Sie, was ich alles an Dreck entdecke, wenn ich mit der Taschenlampe in die Steckdosen und hinter die Schränke leuchte! Wenn ich da nicht überall immer Fotos machen würde, das würde mir niemand glauben. Bei den Versammlungen von Haus + Grund sind die Bilder immer sehr gefragt!“

Frau Böckel weiß auch noch was: „Das Schlimme ist ja, daß jetzt die Vermieter den Makler bezahlen müssen. Wir haben ja so ein gutes Verhältnis zum Maklerbüro Hassemann und Gründel. Der hat ja alle Vermietungen für uns gemacht und dann die Provision mit uns geteilt. Das heißt, eigentlich haben wir ja alles selbst gemacht, aber vor dem Vertragsabschluß mußten die Mieter immer noch zu Hassemann und Gründel. Aber das geht ja jetzt nicht mehr.“

„Doch!“, poltert Herr Böckel. „Mit der Jutta! Haralds Frau Jutta übernimmt jede Wohnung, die frei geworden ist. Das ist rechtlich alles einwandfrei, die kriegt einen richtigen Mietvertrag von uns. Und die sucht dann per Inserat einen Nachmieter…“

„…und wenn die Leute dann kommen und von der Wohnung begeistert sind“, erklärt Frau Böckel, „dann sagt sie, daß sie die Wohnung nur schweren Herzens abgibt und daß noch viele andere Interessenten da wären. Aber wenn die Leute ihr zwei Monatsmieten auf die Hand zahlen, gibt sie deren Bewerbung bevorzugt bei uns ab, sagt sie. Das klappt meistens, denn die Häuser stehen ja in sehr begehrten Wohnlagen.“

„Jetzt erzählst Du das aber nicht ganz richtig“, schimpft Herr Böckel: „Die Jutta verlangt auch manchmal 5.000 Euro für Klobrille, Gardinenstangen und Teppichboden oder Laminat. Das wollen die Leute meistens nicht haben, aber dann sagt die Jutta: ‚Mir egal, dann zieht hier halt jemand anders ein.‘ Und schon zahlen die Leute. Geht ja wirklich nicht, daß die in Berlin uns die Maklergebühr gestrichen haben.“

„Obwohl, Hans, jetzt ist das ja sogar mehr, als wir früher von Hassemann und Gründel bekommen haben.“

„Auch wieder wahr!“

„Bei Ihnen wollte ich nicht wohnen.“

„Ach, Sie verkennen das! Bei uns hätten Sie’s gut. Wir tun doch alles für unsere Mieter. Überall die neuesten Fenster, überall erstklassige sanitäre Einrichtungen. Wenn die nicht alles kaputt machen würden, wäre es der Himmel auf Erden für die. Sie finden nirgendwo sonst Häuser, die so ruhig und so sauber sind. Bei uns kann man vom Fußboden essen!“

„Bei uns auch, weil genug rumliegt.“

„Was?“

„Ach nix. Ich muß jetzt wirklich gehen.“

„Wir wollten doch noch über unsere Beerdigung sprechen, wie das mit uns so ist, wenn wir mal tot sind.“

„Dann – dann müssen Sie zweimal die Woche raus und den Friedhof kehren, wegen der Hausordnung!“


1 Für die Nennung des fast als Gattungsnamen geltenden Leitz-Ordners habe ich keinerlei Zuwendungen dieses Büroartikelherstellers erhalten. Für diese Geschichte wurden auch keine Gipsermeister gequält oder getötet.
2 Man kann Wandalen auch mit W schreiben, ehrlich.
3 Soviel wie: Ich könnte kotzen!

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