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Fluppe

„Wie issen dett, wir krieg’n nichma dett Hartz IV. Wer zahlt datt nu?“

So lautete die Frage, die mir der etwa 30jährige Mann stellte, während er eine neue Hülse auf seinen Zigarettenstopfapparat steckte und mit einem ratschenden Geräusch den Tabak hineinbeförderte.
Er sitzt vor mir am Wohnzimmertisch, der mit leeren Bierflaschen und überquellenen Aschenbechern überladen ist und trägt ein schwarzes T-Shirt mit der gelben Aufschrift „Deutscher Kampftrinker“.

Seine Frau kommt aus der Küche, eine Kippe im Mundwinkel und stellt mir eine Tasse Kaffee hin. „Wollen Sie auch ne Fluppe?“
Ich verneine und wende mich wieder meinen Unterlagen zu, die ich auf den Knien balanciere, weil auf dem Tisch kein Quadratzentimeter Platz ist.

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Ich bin bei diesen Leuten, weil der Vater der Frau im Krankenhaus gestorben ist und die Leute uns den Auftrag erteilen wollen, ihn zu bestatten. Schon eine Stunde versuche ich, die grundlegendsten Dinge zu klären, was mir nur unter Mühen gelingt. Kevin Yannick, der Sechsjährige sitzt halbrechts hinter mir auf dem Fußboden, hört in ohrenbetäubender Lautstärke eine CD mit Spongebob-Liedern und spielt mit seiner niegelnagelneuen Playstation III, die er vorgestern zu Weihnachten bekommen hat. Auf dem Flachbildschirmfernseher fliegen blutige Fetzen und jedes Mal wenn das der Fall ist, ruft der Kleine: „Fuck, geil!“

Die Dame des Hauses geht in die Küche, in die ich von meinem Sessel aus hineinschauen kann, nimmt eine leere Raviolidose und kommt ins Wohnzimmer zurück. Dort kippt sie dann die übervollen Aschenbecher in die Dose, während Asche von der Zigarette in ihrem Mundwinkel auf den Fußboden fällt.

„Ja, sagen se mal, wie issen dett nu?“ reißt mich der Zigarettenstopfer aus meinen Gedanken und seine Frau stellt die mit Kippen gefüllte Raviolidose auf den Wohnzimmertisch; ein Wunder, daß sie einen freien Platz findet.

Ich erkläre den Leuten die Prozedur, schildere ihnen die verschiedenen Möglichkeiten und vergesse nicht, darauf hinzuweisen, daß wir uns eben bei der Auswahl beschränken müssen und man notfalls auch in Raten bezahlen kann.

„Wissen Sie“, wendet sich die Frau an mich, steckt sich an dem glimmenden Stummel eine neue Zigarette an und fährt fort: „Wir ham inne Woche nur 18 Euro für Essen.“

Unwillkürlich schaue ich mich um, blicke auch auf den Tannenbaum in der gegenüberliegenden Ecke, unter dem sich die Packungen der Weihnachtsgeschenke stapeln. Vater hat sich eine digitale HD-Videokamera gegönnt, Mutter eine vollautomatische Espressomaschine und für Kevin Yannick scheint es neben der Playstation auch noch eine wii-Konsole gegeben zu haben.

„Ja kieken se nur, dett hammwer uns vom Munde abjespart, jetzt is wieder mau.“

Eine Katze kommt durch die Tür, schnurrt mir um die Beine und versaut meinen Anzug mit Haaren. Von Alpecin hat das Vieh wohl auch noch nichts gehört…

Er blickt von seiner Zigarettenproduktion auf und sagt: „Dett is unsre Musch. Wer ham noch nen Max, dett issen kastrierter Kater und Kevin Yannick hat ne Schange in seinem Zimmer, is aber ne Unjifitge.“

Es klingelt, meine Gastgeberin öffnet und herein kommt ihre Schwester, eine dralle Mittzwanzigerin mit einem lauffähigen Kind an der Hand und einer Pampersgöre auf dem Arm. Sie nickt mir kurz zu und fragt: „Sind Sie der Mann?“

Ich nehme an, sie will wissen, ob ich der Mann vom Bestattungsinstitut bin und nicke.

„Det is jut, ick will och mal nen Blick auf die Bestellung werfen.“

Die mit der Kippe im Mundwinkel fragt ihre Schwester: „Und? Hasse watt zum Essen mitgebracht?“ Die Angesprochene schüttelt den Kopf und sagt: „Nee, watt globste, watt bei Mäckes los war, bisse gar nich innen Drive gekommen, allet voll.“

„Bestell’n wer ebent Pizza“, sagt die andere und nimmt ein Handy ans Ohr. An mich gewandt sagt sie: „Festnetz is abgestellt, wissen se.“ Dann scheint sich der Pizzamann zu melden und erst in dem Moment kommt die Kippenfrau auf die Idee, alle Anwesenden zu fragen, was für eine Pizza sie haben möchten. Es entbrennt eine heftige Dikussion über die Vorzüge diverser Pizzabeläge und dann ordert man endlich eine Partypizza mit sechs verschiedenen Belägen und vier Flaschen Cola.

Endlich gelingt es mir, mich und die anstehende Bestattung wieder ins Gespräch zu bringen und wir kommen tatsächlich in den nächsten zwanzig Minuten ein gutes Stück voran. Es ist fast alles besprochen, da verlieren die Anwesenden auf einmal das Interesse an mir und beginnen den wohl an Festtagen dort üblichen Handy-Vergleich. Es entbrennt ein Streit darüber, ob „Nockia“ besser ist als „Motorroller“, doch Kevin Yannick kreischt, ohne einen Blick von seinem Ballerspiel zu wenden „Sohny“ dazwischen.

Dann kommt die Pizza (45 Euro) und während meine Gastgeber sich mit Pizza und Cola versorgen, klingelt es wieder an der Tür und noch eine Frau mit noch einem Kind und einem Westhighland-Terrier kommt herein. Auch wieder eine Schwester, aber diesmal seine. Der Hund rennt hinter der Katze her, die Kinder bauen gemeinsam die wii-Konsole auf und der ganz Kleine stinkt aus der Windel.

Ein leises Hüsteln von meiner Seite beschert mir wieder kurzfristige Aufmerksamkeit. Ich muß für die neu Hinzugekommene nochmals wiederholen, was die anderen schon ausgesucht haben und dann schließe ich gleich die Frage an, wie man sich das denn mit der Bezahlung vorstellt.

Es erhebt sich ein großes Wehklagen über die Regierung, die Betrüger in Berlin, die Abzocker, den Euro, die Ausländer und die allgemeine Ungerechtigkeit bei der Verteilung der materiellen Dinge.

Die letzte Schwester sagt: „…und für uns? Für uns bleibt doch nix!“ beugt sich vor und macht mit ihrer neuen Digitalkamera Fotos von den spielenden Kindern.

Nein, ich will immer noch keine ‚Fluppe‘ und auch den Rest von der Pizza lehne ich ab, denn die Katze ist auf der Flucht vor dem Hund mehrfach quer über den Hocker, auf dem der Pizzakarton steht, gesprungen und hat ihre Haare über den Käse verteilt.

„Wenn se Stress hat, haart se immer so.“

Ich klappe meine Mappe zu und man wendet sich wieder mir zu. Eine der Schwestern sagt: „Der Mann will gehen. Wat issen gezz mitti Kohle?“

Man beratschlagt sich kurz, dann kramt jeder irgendwo nach Geld. Er angelt sein Portemonnaie aus der Gesäßtasche, die Schwestern durchsuchen ihre Handtaschen, die Dame des Hauses holt eine Blechdose aus dem Wohnzimmerschrank. Immerhin 900 Euro bekommen sie zusammen und ich schreibe eine Quittung. Den Rest wollen sie bei anderen Verwandten sammeln.

„Und im neuen Jahr geh ick uffs Amt, da können se sich drauf verlassen“, sagt der Zigarettenstopfer zum Abschied, alle bedanken sich bei mir und ich fahre wieder nach Hause.


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Lesezeit ca.: 8 Minuten | Tippfehler melden | Peter Wilhelm: © 26. Dezember 2007 | Revision: 28. Mai 2012

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