Mitarbeiter/Firma

Ganz toller Chef! Die alte Sau!

Yeah, die ersten zwei Stunden meiner neuen Ausbildung sind herum. Es macht total Spaß. Alle sind sehr nett.

So ähnlich äußerte sich da der kleine Dummbratzen, der mit seinen Facebook-Einträgen hier und anderswo in den letzten Tagen für Gelächter sorgte.

Nach zwei Stunden kann man sowieso noch nichts sagen. Aber es kommt natürlich irgendwann der Zeitpunkt, an dem man schon etwas länger dabei ist, den Beruf und seine Kollegen näher kennen gelernt hat und auch seine Vorgesetzten besser einschätzen kann.
Deshalb sagt man als vernünftiger Mensch, wenn man einen Jugendlichen fragt, wie ihm die neue Stelle denn gefällt, und man eine Antwort wie oben bekommt, am allerbesten: „Prima, das ist ja klasse, aber ich frag‘ Dich in acht Wochen noch mal.“

Werbung

Ich erinnere mich sehr gut an einige Praktikanten und Auszubildende, die genau so über mein Unternehmen und mich geschwärmt haben. Einmal meinte ein Praktikant: Alles super, toller Chef, prima hier, unglaublich toll, ehrlich: der Chef ist ganz toll!
Ein paar Wochen später mußte ich dem jungen Kerl mal den Kopf zurecht rücken und da war ich dann eine „alte Sau“. (So etwas erfährt man als Chef immer.)

Aber in Wirklichkeit bin ich ein guter Chef. Doch auch ein mitfühlender Chef, der warmherzig ist und sich zu jedem Zeitpunkt sehr gut daran erinnert, wie Anweisungen aus der Sicht des Angestellten aussehen, muß man manchmal „hart durchgreifen“ oder den Leuten einfach mal eine klare Ansage machen. Das gilt umso mehr, wenn man -so wie ich- manches durchgehen läßt. Ab und zu kommt dann der Punkt, wo man die Leute wieder „erden“ muß.

Manch einer kommt mit den gewährten Freiheiten richtig gut klar. Antonia zum Beispiel. Für sie war das alles immer ein Geben und Nehmen. Wahrscheinlich ohne großartig darüber nachzudenken, hat sie sich stets bemüht, erhaltene Vergünstigungen irgendwie durch Mehrarbeit oder besonderen Einsatz zu kompensieren; und sei es nur, daß sie einen sebstgebackenen Kuchen mitgebracht hat.
Sandy hingegen hat das völlig anders gemacht. Einmal abgesehen davon, daß sie eine ausgezeichnete Mitarbeiterin war und Großartiges geleistet hat, so waren selbst die sehr weit ausgelegten Regeln und Grenzen für sie oft immer noch zu eng und wurden manchmal einfach überschritten.
Da konnte es passieren, daß man montags auf das Erscheinen der schönen Frau wartete und… niemand kam. Zu Hause: nur der Anrufbeantworter. Das Handy: nur die Mailbox.
Sandy ist nicht zu erreichen.
Der Montag vergeht, der Dienstag vergeht und auch der Mittwoch geht vorüber.
Selbst Sandys Angehörige wissen nicht wo sie sich aufhält und sind ebenfalls voller Sorge. Die Polizei braucht man gar nicht anzurufen, bei der Nennung von Sandys Namen sagen die nur „Ach Gott, bloß nicht die schon wieder!“…

Donnerstag so gegen halb elf kommt sie dann ins Büro, total aufgedreht und gleichzeitig fix und fertig. Wie ein Wasserfall sprudelt es aus ihr heraus, ganz tolles Festival in der Nähe von Brüssel, coole Typen und hammermäßig viele Pilze. Alles cool, alles easy. Das Mädchen strahlt, die blauen Augen leuchten wie Sonnenstrahlen, die sich im blauen Meer brechen und dann hüpft sie uns alle an und umarmt jeden, auch mich…
Wenig später holt sie kleine Päckchen aus ihrem Seesack und schenkt jedem von uns ein Manneken Pis aus Marzipan, für mich hat sie ein Pissmännchen aus Schokolade.

Ich winke sie mit dem strengen Finger in mein Büro, wir schließen die Tür, ich setze mich hinter den Chef-Schreibtisch und setze das Chef-Gesicht auf.
Sie sitzt mir gegenüber, kein bißchen kleinlaut. Sie beugt sich vor, legt ihr Kinn auf die Tischkante und schaut mich aus diesen unglaublich blauen Augen von unten her an. Eine schwarze Haarsträhne hängt ihr quer über die Stirn bis über die Nasenspitze.
Ich lege bedeutsam die Fingerspitzen beider Hände aufeinander und schaue an die Decke, sammle meine Gedanken und hole aus zu einem Satz, der sich gewaschen hat; der ihr die Entlassung androht, der sie mit den rechtlichen Konsequenzen konfrontiert, der ihr klar macht, daß es so einfach nicht geht…
Nein, ich werde nicht nur diesen einen langen Satz sagen, ich werde ein Satzgewitter auf sie niederprasseln lassen!

Mein Blick schweift von der Decke zu Sandy und ich richte mich in meinem Sessel auf um mein Satzgewitter zu starten…

„Pffft“, macht Sandy.
Ihre Augen sind zugefallen, immer noch liegt ihr Kopf nur mit dem Kinn auf meinem Schreibtisch und aus der etwas vorgeschobenen Unterlippe pustet sie beim Ausatmen immer diese Strähne, die ihr da über Stirn und Nase hängt, etwas nach oben.
Sie schläft…

Ich esse einen Pinkelknaben aus Schokolade, schaue ihr zwei, drei Minuten beim Schlafen zu und dann gehe ich hinaus.

Was soll’s?

Meine Frau schimpft. Sie meint, ich müsse härter durchgreifen und sei es selbst schuld, daß mir diese „amerikanische Göre“ auf der Nase herumtanze…

Am Wochenende, es ist 23.45 Uhr, stehen Sandy und ich im Licht eilig aufgestellter Scheinwerfer auf den Schienen neben einem Bahnübergang und suchen gemeinsam mit zwei schweigsamen Feuerwehrleuten Leichenteile zusammen.
Wir „sacken“ alles ein, fahren es zur Rechtsmedizin und kaum sind wir da fertig, ruft Familie Sälzer an und wir müssen ein 12jähriges Mädchen aus der Kinderkrebsklinik abholen. Kaum haben wir das Kind bei uns in die Kühlung gelegt, ruft das Anna-Heim an, eine Heimbewohnerin muß sofort geholt werden, das Heim hat keine Kühlung.

Anderthalb Stunden später:
Im Präparationsraum beobachte ich Sandy. Mit einer Handbewegung die ich nie verstehen werde, hat sie ihr langes schwarzes Haar zu einem knotenartigen Irgendwas zusammengedreht. In den Ohren stecken die Kopfhörer ihres MP3-Players und sie kaut vier Kaugummikugeln (Geschmacksrichtung Grape) gleichzeitig.
Ihre langen Finger arbeiten wieselflink, die junge Frau ist hochkonzentriert und alles was sie tut ist absolut korrekt.

Die junge Frau, die da so hochkonzentriert arbeitet, ist Mitte Zwanzig, hat jetzt gerade, genau wie ich, eine Dauerbereitschaft von 36 Stunden auf dem Buckel, wir haben sechs Verstorbene geholt. Zwei davon im Auftrag eines befreundeten Bestatters, zwei reine Polizeiüberführungen und die alte Frau und das Kind.

„Hey, Chef, hör mal! Is geil!“ sagt sie, zieht den Knopf aus ihrem rechten Ohr und steckt ihn einfach in mein Ohr.

Okay, beim nächsten Mal – beim nächsten Mal reiße ich ihr den Kopf ab, beim nächsten Mal ganz bestimmt!

Hashtags:

Ich habe zur besseren Orientierung noch einmal die wichtigsten Schlagwörter (Hashtags) dieses Artikels zusammengestellt:

Keine Schlagwörter vorhanden

Lesezeit ca.: 8 Minuten | Tippfehler melden


Hilfeaufruf vom Bestatterweblog

Das Bestatterweblog leistet wertvolle Arbeit und bietet gute Unterhaltung. Heute bitte ich um Deine Hilfe. Die Kosten für das Blog betragen 2025 voraussichtlich 21.840 €. Das Blog ist frei von Google- oder Amazon-Werbung. Bitte beschenke mich doch mit einer Spende, damit das Bestatterweblog auch weiterhin kosten- und werbefrei bleiben kann. Vielen Dank!




Lesen Sie doch auch:


(©si)