Eine meiner ersten Begleitungen dauerte über ein Jahr. Herr Steinmann war 84 und bettlägerig. Nach einem Schlaganfall vor über zehn Jahren konnte er nicht mehr sprechen und war auch zunehmend geistig verwirrt. Von Herrn Steinmann lernte ich, wie man sich ohne Sprache verständigt. Kleinste Signale zeigten mir, wie es ihm ging und ob er etwas mochte oder nicht. Es war oft schwierig, aber ich denke, in den meisten Fällen verstand ich das Wichtigste. Er brachte mir viel über Würde und bedingungslose Liebe bei. Von ihm lernte ich, dass es mir egal ist, was jemand noch kann oder nicht kann. Das ist der große Vorteil von mir als Hospizbegleiterin im Vergleich zu den Angehörigen: Ich habe keine Vergangenheit mit den Menschen, die ich begleite. Ich sehe sie nicht, wie sie früher waren, sondern lerne sie so kennen, wie sie jetzt gerade sind. Und so nehme ich sie an und mache das Beste daraus.
Eines Tages ging es Herrn Steinmann plötzlich schlechter. Das Pflegeheim rief mich an und ich kam vormittags ins Heim. Herr Steinmann war schon weit weg, das Sterben würde nicht mehr lange dauern, auch wenn mir das damals noch nicht so klar war. Mein Problem war nur: Ich konnte mir zwar den Vormittag freinehmen, ab mittags hatte ich zu Hause aber meine Tochter, um die ich mich kümmern musste. Und ausgerechnet heute war mein Mann, der sonst immer auch spontan einspringen kann, auf Geschäftsreise. Ich war also bei Weitem nicht so flexibel, wie ich das in dieser Situation gerne gewesen wäre.
Ich teilte meine Zeit auf, so gut ich konnte. Fuhr nach Hause, um meine Tochter nach der Schule in Empfang zu nehmen und ihr schnell etwas zu kochen. Fuhr dann wieder ins Pflegeheim, während sie Hausaufgaben machte. Fuhr nach Hause, um ein wenig Zeit mit ihr zu verbringen. Fuhr wieder ins Pflegeheim, als sie ein bisschen Fernsehen wollte. Insgesamt fünfmal war ich an diesem Tag im Heim. Jedes Mal war Herr Steinmann ein wenig weiter gegangen. Ich saß dann eine halbe oder ganze Stunde an seinem Bett, hielt seine Hand, sang ihm Lieder vor oder war einfach nur da. Angehörige gab es nicht, ich war neben den Pflegekräften die einzige, die nach Herrn Steinmann schaute. Ich wäre wirklich gerne länger geblieben, so lange wie nötig. Aber das ging heute einfach nicht. Ich tat, was ich konnte. Als ich abends noch ein letztes Mal für diesen Tag ins Pflegeheim kam, fing mich eine Schwester gleich an der Tür ab und rief mich ins Schwesternzimmer. „Herr Steinmann ist verstorben“, meinte sie. Ich hatte seinen Tod knapp verpasst, um weniger als eine halbe Stunde.
Ich bat darum, mich noch verabschieden zu können, und verbrachte noch ein bisschen Zeit mit Herrn Steinmann. Erklärte ihm, dass ich sehr gerne bei ihm gewesen wäre, als er gestorben ist. Sang ihm noch einmal ein Lied vor, das er so gerne gemocht hatte. Als ich ging, hatte ich das sichere Gefühl, dass es so in Ordnung war. Er hatte mich längst nicht mehr gebraucht.
Erklärung: der Todeszeitpunkt
Obwohl wir Sterbebegleitung anbieten, sind wir längst nicht immer im Todesmoment anwesend. Häufig lässt er sich nicht vorhersehen und die Menschen sterben früher als vermutet. In anderen Fällen gibt es Angehörige, die in der Todesstunde dabei sein können und wollen. Dann stehen wir natürlich in der zweiten Reihe oder sind gar nicht dabei. Und manchmal verpassen wir den Tod auch einfach, so wie ich diesmal.
Ich habe noch einmal die wichtigsten Schlagwörter (Hashtags) dieses Artikels für Sie zusammengestellt, damit Sie sich besser orientieren können:
Keine Schlagwörter vorhanden
Begleitet eigentlich immer die selbe Person einen Todgeweihten bis zum Ende, ofer wechselt das häufiger? Ich meine abgesehen krankheits und urlaubs bedingt.
Üblicherweise bleibt immer die selbe Person bis zum Tod in der Begleitung. Es kann aber manchmal sein, dass eine Person nicht ausreicht, gerade zum Schluss hin, dann kommt möglicherweise eine zweite oder auch dritte Hospizbegleiterin dazu. Und, wie du schon schreibst, es kann natürlich Ersatz kommen bei Krankheit, Urlaub etc. Und manchmal passt es aus irgendwelchen Gründen auch nicht mehr, dann kann natürlich auch gewechselt werden.
Wie bei meinem Schwiegervater. Meine Frau und ich waren morgens noch bei ihm. Er war bei klarem Verstand und hat mit uns gesprochen. Wir fuhren zu meiner Schwiegermutter mit dem Versprechen, am frühen Nachmittag mit ihr wiederzukommen. Wir waren gerade dort angekommen, als uns der Anruf des Krankenhauses erreichte, er sei hinübergegangen. Wir waren natürlich traurig, aber es war alles gesagt, alles vergeben, Frieden gemacht.
Wie bei meinem Vater. Sonntags war noch im Krankenhaus, nachdem ich angerufen wurde, ich solle kommen. Sie wissen nicht wie lange es noch dauert. Ich war den ganzen Mittag bei ihm – es war auch sein 83er-. Abends mußte ich zurück zu meiner Familie. Am nächsten Morgen wollte ich dann mit den Kollegen um 9:00 zum Frühstück, als dann der Anruf kam. Ich denke für ihn war es so in Ordnung und obwohl er nur noch geschlafen hat, konnte ich alles in Ordnung bringen und auch mit ihm Frieden schließen – wenn es überhaupt etwas gab, über das ich mit ihm hätte Frieden schließen müssen.
Aus meiner langjährigen Praxis kann ich nur folgendes berichten. Viele, die kurz vor diesem Zeitpunkt stehen, können leichter gehen wenn niemand nahestehendes dabei ist. Einige Angehörige machen sich deswegen Vorwürfe und mussten deswegen beruhigt werden. Es ist so in Ordnung, wie es passiert ist.
Ob es sich bei den Sterbenden nun um Scham handelt, nicht zur Last fallen wollen oder einfacheres loslassen können, kann ich allerdings nicht sagen.
Das Gefühl habe ich bei meinem Opa. Er ist in der Nacht von Mittwoch auf Donnerstag im zarten Alter von 93 anderthalb Jahre nach einem Sturz, der ihn ins Bett gefesselt hat, nach nochmal acht Wochen „Kampf“ verstorben. Ich war die letzten Wochen im Schnitt fünf Tage die Woche bei ihm. Montag war ich noch da, Dienstag hatte ich einen Termin zuhause (er wohnte anderthalb Stunden entfernt) und konnte nicht und Mittwoch saß ich bis halb elf abends auf der Couch wie festgebunden. Noch ein Glas Wasser, dann fährst du los. Das Video guckst du noch zu Ende, dann aber. Du hast noch kein Abendbrot gegessen, iss man noch kurz bevor du losfährst… So ging es wie gesagt bis halb elf. Ich hatte hin und wieder mal nicht die Energie hinzufahren. Aber nie so. Wir waren immer ganz ganz eng. Ich habe manchmal die Nachtschwester angerufen, weil ich Scheiss geträumt habe. Ich lag nie falsch. Mal ist er aus dem Bett gefallen, mal hat er gedacht sein Bett brennt, etc. Diese Verbindung war so in… Weiterlesen »