Sterben + Trauer

Knapp verpasst

Sanduhr
Bild von Eduin Escobar auf Pixabay

Eine meiner ersten Begleitungen dauerte über ein Jahr. Herr Steinmann war 84 und bettlägerig. Nach einem Schlaganfall vor über zehn Jahren konnte er nicht mehr sprechen und war auch zunehmend geistig verwirrt. Von Herrn Steinmann lernte ich, wie man sich ohne Sprache verständigt. Kleinste Signale zeigten mir, wie es ihm ging und ob er etwas mochte oder nicht. Es war oft schwierig, aber ich denke, in den meisten Fällen verstand ich das Wichtigste. Er brachte mir viel über Würde und bedingungslose Liebe bei. Von ihm lernte ich, dass es mir egal ist, was jemand noch kann oder nicht kann. Das ist der große Vorteil von mir als Hospizbegleiterin im Vergleich zu den Angehörigen: Ich habe keine Vergangenheit mit den Menschen, die ich begleite. Ich sehe sie nicht, wie sie früher waren, sondern lerne sie so kennen, wie sie jetzt gerade sind. Und so nehme ich sie an und mache das Beste daraus.

Sanduhr
Bild von Eduin Escobar auf Pixabay

Eines Tages ging es Herrn Steinmann plötzlich schlechter. Das Pflegeheim rief mich an und ich kam vormittags ins Heim. Herr Steinmann war schon weit weg, das Sterben würde nicht mehr lange dauern, auch wenn mir das damals noch nicht so klar war. Mein Problem war nur: Ich konnte mir zwar den Vormittag freinehmen, ab mittags hatte ich zu Hause aber meine Tochter, um die ich mich kümmern musste. Und ausgerechnet heute war mein Mann, der sonst immer auch spontan einspringen kann, auf Geschäftsreise. Ich war also bei Weitem nicht so flexibel, wie ich das in dieser Situation gerne gewesen wäre.

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Ich teilte meine Zeit auf, so gut ich konnte. Fuhr nach Hause, um meine Tochter nach der Schule in Empfang zu nehmen und ihr schnell etwas zu kochen. Fuhr dann wieder ins Pflegeheim, während sie Hausaufgaben machte. Fuhr nach Hause, um ein wenig Zeit mit ihr zu verbringen. Fuhr wieder ins Pflegeheim, als sie ein bisschen Fernsehen wollte. Insgesamt fünfmal war ich an diesem Tag im Heim. Jedes Mal war Herr Steinmann ein wenig weiter gegangen. Ich saß dann eine halbe oder ganze Stunde an seinem Bett, hielt seine Hand, sang ihm Lieder vor oder war einfach nur da. Angehörige gab es nicht, ich war neben den Pflegekräften die einzige, die nach Herrn Steinmann schaute. Ich wäre wirklich gerne länger geblieben, so lange wie nötig. Aber das ging heute einfach nicht. Ich tat, was ich konnte. Als ich abends noch ein letztes Mal für diesen Tag ins Pflegeheim kam, fing mich eine Schwester gleich an der Tür ab und rief mich ins Schwesternzimmer. „Herr Steinmann ist verstorben“, meinte sie. Ich hatte seinen Tod knapp verpasst, um weniger als eine halbe Stunde.

Ich bat darum, mich noch verabschieden zu können, und verbrachte noch ein bisschen Zeit mit Herrn Steinmann. Erklärte ihm, dass ich sehr gerne bei ihm gewesen wäre, als er gestorben ist. Sang ihm noch einmal ein Lied vor, das er so gerne gemocht hatte. Als ich ging, hatte ich das sichere Gefühl, dass es so in Ordnung war. Er hatte mich längst nicht mehr gebraucht.

Erklärung: der Todeszeitpunkt

Obwohl wir Sterbebegleitung anbieten, sind wir längst nicht immer im Todesmoment anwesend. Häufig lässt er sich nicht vorhersehen und die Menschen sterben früher als vermutet. In anderen Fällen gibt es Angehörige, die in der Todesstunde dabei sein können und wollen. Dann stehen wir natürlich in der zweiten Reihe oder sind gar nicht dabei. Und manchmal verpassen wir den Tod auch einfach, so wie ich diesmal.

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