Menschen

Zwei sind einer zu viel 8

Da hatten die beiden älteren Damen sich also vor längerer Zeit schon verschworen und Oma Trude hatte der „geschiedenen“ Oma Leuschner immer mal wieder den Kontakt zur gemeinsamen Enkelin ermöglicht. So war Oma Leuschner auch in den Besitz Dutzender Fotos gekommen, die sie in einem kleinen Plastikfotoalbum ständig in der Handtasche bei sich trägt.

„Schauen Sie mal“, sagt sie zu mir, hält mir das kleine Album hin und läßt es mich durchblättern. Es zeigt Leonie in allen Entwicklungsstadien. Als sie gerade Laufen lernte, beim Schaukeln, Spielen und immer wieder auf Oma Trudes Wohnzimmercouch. Ein wirklich hübsches Kind.

„Ich mag mir das in Ruhe einmal ansehen“, sage ich zu Frau Leuschner, „ich gebe es Ihnen wieder zurück, in ein paar Tagen, okay?“

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Sie schürzt die Lippen, knetet ein Papiertaschentuch zwischen den schlanken Fingern und dann nickt sie. „Aber ich krieg es wieder, ja?“

„Sicher.“

Wir sitzen zu diesem Zeitpunkt in dem Beratungsraum, den wir das „englische Zimmer“ oder das „Kaminzimmer“ nennen.

Es ist ein halbhoch holzgetäfelter Raum, der ein klein wenig dunkler wirkt als die büroartig eingerichteten anderen Besucherräume und in dem es neben einem schweren Churchill-Schreibtisch nur grün bezogene englische Ledermöbel mit vielen Polsterknöpfen und zwei englische Schränke gibt. Der Boden ist dick mit Teppich belegt und an der Wand gegenüber vom Schreibtisch gibt es einen Kamin. Leider ist der Kamin nicht echt, das ließ sich baulich nicht machen. Früher hatte ich mal einen elektrischen Kamineinsatz mit Flackereffekt, der sehr echt wirkte, aber unser Hausfaktotum Carlos Gastropoda hat vor einem guten Jahr einen Brenner für so ein Biogel eingebaut, sodaß man jetzt richtiges Feuer machen kann, zwar ohne knisternde Holzscheite aber dafür mit echten Flammen und einem spürbaren Wärmeeffekt.

Warum gibt es diesen Raum? Nur um alte Omas gut zu bewirten? Nein. Ich mag diesen Einrichtungsstil sehr gerne, Grün ist meine Lieblingsfarbe und in unserer Wohnung mag meine Allerliebste solche Möbel nicht haben. Wäre auch doof, ich habe Katzen, zwei Hunde, Kinder und eine ungeschickte Ehefrau…
Also habe ich mir einen Raum so eingerichtet, in dem ich mit Besuchern, bei denen das paßt, Gemütlichkeit in schönem Ambiente finden kann.

Und genau da sitzen die beiden Omas von Leonie und ich bei einer Tasse englischem Tee, das fanden wir alle sehr passend.

Die Frauen sind froh, daß sie sich nach dem doch sehr nervenzerrenden Besuch bei ihrem toten Enkelkind hier etwas entspannen und einfach nur von Leonie erzählen können. Das ist nämlich ein ganz wichtiger Bestandteil der Trauerarbeit, es im wahrsten Sinne des Wortes begreifen zu können, daß jemand tot ist und gleichzeitig über ihn zu sprechen, damit man die Erinnerungen und die harte Wirklichkeit miteinander in Einklang bringen kann. Nur so ist es möglich, die Stufe des Loslassens erreichen zu können. Die Toten muß man gehen lassen. Sie gehen einen Weg, von dem keiner von uns weiß, ob er mit der Zersetzung der Materie beendet ist oder ob da vielleicht doch noch etwas kommt. Aber die Natur hat es so vorgesehen, daß die Toten gehen.
Was wir behalten dürfen, das ist das was wir in unseren Herzen und der Erinnerung bewegen und dem ein ehrendes und wohlwollendes Andenken zu geben, ist etwas sehr Wertvolles. Wer es in seinem Leben schafft, daß nach seinem Tod die Menschen noch an ihn denken, der bleibt.

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(©si)