Da hatten die beiden älteren Damen sich also vor längerer Zeit schon verschworen und Oma Trude hatte der „geschiedenen“ Oma Leuschner immer mal wieder den Kontakt zur gemeinsamen Enkelin ermöglicht. So war Oma Leuschner auch in den Besitz Dutzender Fotos gekommen, die sie in einem kleinen Plastikfotoalbum ständig in der Handtasche bei sich trägt.
„Schauen Sie mal“, sagt sie zu mir, hält mir das kleine Album hin und läßt es mich durchblättern. Es zeigt Leonie in allen Entwicklungsstadien. Als sie gerade Laufen lernte, beim Schaukeln, Spielen und immer wieder auf Oma Trudes Wohnzimmercouch. Ein wirklich hübsches Kind.
„Ich mag mir das in Ruhe einmal ansehen“, sage ich zu Frau Leuschner, „ich gebe es Ihnen wieder zurück, in ein paar Tagen, okay?“
Sie schürzt die Lippen, knetet ein Papiertaschentuch zwischen den schlanken Fingern und dann nickt sie. „Aber ich krieg es wieder, ja?“
„Sicher.“
Wir sitzen zu diesem Zeitpunkt in dem Beratungsraum, den wir das „englische Zimmer“ oder das „Kaminzimmer“ nennen.
Es ist ein halbhoch holzgetäfelter Raum, der ein klein wenig dunkler wirkt als die büroartig eingerichteten anderen Besucherräume und in dem es neben einem schweren Churchill-Schreibtisch nur grün bezogene englische Ledermöbel mit vielen Polsterknöpfen und zwei englische Schränke gibt. Der Boden ist dick mit Teppich belegt und an der Wand gegenüber vom Schreibtisch gibt es einen Kamin. Leider ist der Kamin nicht echt, das ließ sich baulich nicht machen. Früher hatte ich mal einen elektrischen Kamineinsatz mit Flackereffekt, der sehr echt wirkte, aber unser Hausfaktotum Carlos Gastropoda hat vor einem guten Jahr einen Brenner für so ein Biogel eingebaut, sodaß man jetzt richtiges Feuer machen kann, zwar ohne knisternde Holzscheite aber dafür mit echten Flammen und einem spürbaren Wärmeeffekt.
Warum gibt es diesen Raum? Nur um alte Omas gut zu bewirten? Nein. Ich mag diesen Einrichtungsstil sehr gerne, Grün ist meine Lieblingsfarbe und in unserer Wohnung mag meine Allerliebste solche Möbel nicht haben. Wäre auch doof, ich habe Katzen, zwei Hunde, Kinder und eine ungeschickte Ehefrau…
Also habe ich mir einen Raum so eingerichtet, in dem ich mit Besuchern, bei denen das paßt, Gemütlichkeit in schönem Ambiente finden kann.
Und genau da sitzen die beiden Omas von Leonie und ich bei einer Tasse englischem Tee, das fanden wir alle sehr passend.
Die Frauen sind froh, daß sie sich nach dem doch sehr nervenzerrenden Besuch bei ihrem toten Enkelkind hier etwas entspannen und einfach nur von Leonie erzählen können. Das ist nämlich ein ganz wichtiger Bestandteil der Trauerarbeit, es im wahrsten Sinne des Wortes begreifen zu können, daß jemand tot ist und gleichzeitig über ihn zu sprechen, damit man die Erinnerungen und die harte Wirklichkeit miteinander in Einklang bringen kann. Nur so ist es möglich, die Stufe des Loslassens erreichen zu können. Die Toten muß man gehen lassen. Sie gehen einen Weg, von dem keiner von uns weiß, ob er mit der Zersetzung der Materie beendet ist oder ob da vielleicht doch noch etwas kommt. Aber die Natur hat es so vorgesehen, daß die Toten gehen.
Was wir behalten dürfen, das ist das was wir in unseren Herzen und der Erinnerung bewegen und dem ein ehrendes und wohlwollendes Andenken zu geben, ist etwas sehr Wertvolles. Wer es in seinem Leben schafft, daß nach seinem Tod die Menschen noch an ihn denken, der bleibt.
Ich habe noch einmal die wichtigsten Schlagwörter (Hashtags) dieses Artikels für Sie zusammengestellt, damit Sie sich besser orientieren können:
Keine Schlagwörter vorhanden
…weise Worte, Tom! Freue mich auf Teil 9 + 10 (aber dann muss auch mal Schluss sein, das halten meine Nerven sonst nicht aus!)
Ich schließe mich an! Bin sehr gespannt auf die nächsten beiden Teile. Aber ein Abschluss wäre dann sicherlich gut. 🙂
(…zumal ja die Fee der Nacht noch unvollständig ist… 🙂 )
Ach, da wirst du wohl was Nettes mit den Fotos anstellen, richtig? Vielleicht aus dem Arschloch-Erzeuger (sorry) irgendwie ein paar Gefühle locken – oder es zumindest versuchen? Hach! So schöne Geschichten! Vielen Dank, dass du meine derzeit etwas depressiven Tage mit deiner Prosa immer wieder aufhellst 🙂
Kathrin: Du wirst aus Menschen, die keine richtige Bindung zu einem Kind haben, nicht plötzlich die großen Gefühle rausbekommen. Denn die sind nicht da – und jemand, der erst nach dem Tod eines Kindes meint, er müsste damit ankommen, den würde jeder für sehr verlogen halten. Glaub´ mir, ich habe mehrere Kinderbeerdigungen hinter mit und längere Zeit mit verwaisten Eltern verbracht. Manchmal hilft es einfach beim Denken, Fotos von jemandem vor sich zu haben. Z. B. um eine Trauerfeier schön zu gestalten oder auch einfach nur, um den Tod des Kindes für sich selbst zu verarbeiten. Mein Sohn hat vor 10 Jahren in der Klinik ein Mädchen kennen gelernt, die leider nicht überleben durfte. Wir waren auf der Beerdigung und es gab diese Erinnerungsbildchen – ich habe es immer noch und es hing auch lange Zeit an der Wand. Einfach, um an sie zu erinnern. Mein Freund meinte, ich sollte es abnehmen, es wäre so traurig. Ja, es ist traurig, das es sie „in echt“ nicht mehr gibt. Aber es ist so schön, das wir… Weiterlesen »
Wenn ich mal verlinken darf…
http://www.youtube.com/watch?v=KuPNZFHGPTw&feature=relmfu
Gibts von dem englischen Zimmer irgendwo ein Foto? Würd mich mal interessieren wie das so aussieht/aussah 🙂
Die beiden Omis sind ja echt niedlich… Die haben begriffen worauf es ankommt. Sich nämlich um das Enkelchen zu kümmern und nicht einfach alles irgnorieren und wenns dann zu spät ist den Macker machen. So ein Arsch der Vater… Da könnt ich mich ja ohne Ende aufregen… Aber hilft alles nichts, wie meine weise Omi immer sagt, der liebe Gott hat einen großen Tiergarten.
Freu mich auf die nächsten Teile!