Menschen

Das tiefe Tal

Wie wird der Mund einer Leiche verschlossen?

Herr Kaiser betrauert seine Frau. Das tut er sehr pragmatisch, sie war schon lange krank und hat schon seit Jahren nicht mehr so richtig mitbekommen, was um sie herum geschah.
Man merkt es eigentlich der ganzen Familie an, daß man irgendwie -bei aller Trauer- auch froh ist, daß die Oma, wie alle die Verstorbene nennen, gestorben ist. Jetzt ist das, worauf man sich schon seit anderthalb Jahren irgendwie vorbereitet hatte, endlich eingetreten.
Hinzu kommt, daß Oma -eigentlich die Mutter und Schwiegermutter der sechs anwesenden jüngeren Leute ist- schon so an die acht mal so getan hat als würde sie innerhalb der nächsten Stunden sterben, was dann insbesondere für Jürgen aus Göttingen immer ein Mordstheater war, denn alle Kinder eilten immer herbei um die letzten Stunden bei der Sterbenden zu sein.
Das hängt aber vor allem damit zusammen, daß die alte Dame verkündet haben soll, nur derjenige könne etwas erben, der auch an ihrem Sterbebette gewacht habe.

Nur gestorben ist sie halt die ersten acht mal nicht, sondern hatte sich immer wieder bekrabbelt, erschien am nächsten Tag irgendwie sogar munterer und aufgeweckter als vor ihrer Krankheit und man darf ja nicht sagen, daß die Kinder beinahe schon etwas enttäuscht waren, daß es immer nur blinder Alarm gewesen ist. Sicher, die waren auch froh, daß es Oma wieder besser ging…

Beim neunten Mal hat sich die Hartnäckigkeit der Kinder dann ausgezahlt und alle waren dabei, als Oma Kaiser friedlich im Kreise ihrer Lieben das Zeitliche segnete.

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Und weil das alles so schön harmonisch war, legt Opa Kaiser, der wiederum seinerseits der Vater bzw. Schwiegervater der übrigen Anwesenden ist, gesteigerten Wert darauf, daß insbesondere der Leichenschmaus genau nach den Vorstellungen seiner Frau und den Traditionen ihrer Familie durchgeführt werden müsse.
Die Beerdigung verläuft reibungslos und ganz nach der allgemeinen Üblichkeit. Nur in einem Punkt wird vom Normalen abgewichen: Herr Kaiser läßt es unter keinen Umständen zu, daß der Herr Pastor und ich, der Bestatter, beim Leichenschmaus fehlen. „Sie brauchen ja nicht die ganze Zeit zu bleiben, sie können ja gehen, wenn’s familiär wird und wenn die Brüder meiner Frau besoffen werden, aber ich dulde keinen Widerspruch, sie gehen mit!“

Im Hinterzimmer des Gasthofes „Zum güldenen Schwan“ hat der Wirt über den Billardtisch eine Holzplatte gelegt und diese mit weißen Tischtüchern abgedeckt. Darauf hat seine Frau eine wunderprächtige Auswahl an herrlichsten Kuchen und Torten aufgebaut, daß einem das Wasser nur so im Munde zusammenläuft.
Herr Kaiser sitzt als Patriarch oben vor Kopf einer langen Tischreihe, danach folgen eine ganze Schar von etwa 8 bis 10 Enkeln und erst dann reihen sich die Söhne und Töchter mit ihren Ehepartnern an.
Vier Nachbarn und der Herr Pfarrer und ich bilden den Abschluß.
Ich werde nicht lange bleiben, das steht fest, aber der Kuchen läßt mein Herz dann doch hüpfen und immer wieder schaue ich rüber zum Billard-Kuchenbuffet.

„Erst gibbet saure Nieren!“ ruft Opa Kaiser und klatscht vor Vergnügen in die Hände, als der Schwanenwirt und seine schweineschlachtende Komplizenschaft mehrere große Wurstkessel hereintragen und zwischen und auf den langen Tisch stellen. Dem Opa stellen sie eine extra Schüssel hin und der ruft:

„Langt zu, das sind Nieren, das ist so Tradition in Omas Familie, das müssen alle essen!“

Also, ich weiß, daß Innereien nicht jedermanns Sache sind und das gestehe ich auch jedem zu. Ich persönlich mag Leber und Nieren und als ich höre, daß es saure Nieren geben soll, hüpft mein hungerndes Herz noch ein bißchen mehr.
Dann hebt der Schwanenwirt den Deckel vom ersten Wurstkessel und seine Küchenhilfen tun es ihm gleich…
In Windeseile verbreitet sich ein Geruch nach Urin, Pisse, Harn, kurzum nach Bahnhofsklo mit Pinkelrinne im ganzen Raum.

Es ist nunmal so, daß die Schweineniere an sich eben diesen Geruch mit sich bringen kann, weshalb manche sie in Milch einlegen, andere sie in Essigwasser tunken und ich persönlich mit einem besonderen Küchentrick arbeite, der sicherstellt, daß alles was irgendwie „urinabel“ ist, gut weggeschnitten werden kann.
(Kurz der „Trick“: ich lege die Nieren in die Tiefkühltruhe bis sie fast durchgefroren sind und zerteile sie dann. In halbgefrorenem Zustand sind sie nicht so „flutschig“ und man kann sehr genau sezieren und putzen. Sollte man mal ausprobieren, geht supereinfach!)
((Los, Trolle, beschweren! Der Undertaker hat schon wieder was Themenfremdes gepostet!))

Wenn also Nieren gut zubereitet sind, dann riecht und schmeckt man da gar nicht Unangenehmes. Aber diese Nieren hier im „Güldenen Schwan“ die stinken wie das Gebüsch eines Autobahnparkplatzes ohne Toilette.
Opa Kaiser läßt sich nicht beirren, entweder nimmt er den Geruch nicht wahr oder er will ihn nicht wahr haben. Er schaufelt sich haufenweise von dem stinkenden Gekröse auf den Teller und beginnt zu mampfen. „Los, greift zu! Ich will keinen sehen, der nichts ißt! Das ist so Tradition und Oma würde sich im Grab umdrehen, wenn sie sähe, daß ihr das nicht eßt. Das ist lecker!“

Nein, ist es nicht, das stinkt! Aber artig nimmt sich jeder was, eine Enkelin wehrt sich etwas, wird aber mit strengen Blicken gezwungen, sich den Teller voll laden zu lassen.
Auch mir schaufelt eine Tochter oder Schwiegertochter einen ordentlichen Haufen auf den Teller und mir dreht sich fast der Magen um.
Wenn ich sehe, wie der Schwanenwirt die Nieren zerstückelt hat, wundert mich nichts mehr. Von Saubermachen oder Putzen, das heißt dem Wegschneiden des uringetränkten Teils, ist nichts zu sehen… Würg, Bäh!

Mir kommt eine rettende Idee. „Ich hab ’ne Nierenallergie!“ rufe ich und schiebe meinen Teller dem Pfarrer hin. Dann lache ich, gehe zum Kuchenbuffet und lade mir einen Teller mit drei Stücken Torte voll. „Ich esse statt dessen lieber Kuchen, das ist ja bestimmt auch Tradition in der Familie, oder?“

„Is‘ aber lecker!“ ruft Opa Kaiser und mampft Pipifleisch.

„Ich hätt‘ es ja so gern gegessen“, sage ich und deute mit der sahnigen Gabel von weitem auf die stinkenden Innereien: „Aber ich vertrag es nicht, ich krieg dann dicke Füße und Ausschlag.“

Der Pfarrer erkennt seine Chance, schiebt den Teller ebenfalls fort und sagt: „Und ich hab meine Tabletten nicht dabei, die ich vor dem Essen immer nehmen muß. Ich kann jetzt nur etwas Nachtisch essen.“ Und schon steht er neben mir und ißt Donauwellen.

Opa Kaiser riecht nichts von den Nieren aber den Braten! „Nix da!“ ruft er und fuchtelt mit dem Messer in der Luft herum. „Das sind Fremde, da ist mir das egal, aber Ihr seid Familie und Ihr eßt das Traditionsessen. Da gibt es keine Ausnahme; und wer nix ißt, der kann auch später nix erben.“

Erben?
Hat der Opa was von Erben gesagt?

Auf einmal wird es still im vorher protestgefüllten Hinterzimmer des „Schwanen“ und alle stopfen, mampfen und essen. Das ist doch Tradition, da will man doch dem guten Opa in nichts nachstehen, wenn es sich die Oma doch so gewünscht hat.
Alle schieben sich die stinkenden Nieren in den Mund, es wird geschmatzt und gemampft.

Zu der Zeit habe ich noch geraucht und stehe mit dem Pfarrer draußen auf der Terrasse, da kommt der Schwanenwirt zu uns, schnorrt eine Zigarette und meint: „Daß die so etwas essen können. Ich mach ja nun schon seit 35 Jahren Nierchen, aber so ohne Putzen und Wässern… Nee, die stinken ja fürchterlich, daß man das essen kann… Hab ich nur auf besonderen Wunsch des alten Herrn so gemacht. Gut, der hat ja ’ne Schüssel mit ganz normalen Nierchen, sauber geputzt und ohne Gestank, aber die anderen… Ba Pfui!“

„Tja“, sagt der Herr Pastor, zieht an seiner Pfeife und schmunzelt: „wer erben will muß manchmal durch ein tiefes Tal.“

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(©si)