Allgemein

Der Gedanke an den Tod macht mich so glücklich

Lieber Herr Wilhelm,

ich lese Ihren Blog schon einige Jahre. Begonnen habe ich mit 16, als ich noch zur Schule ging. Heute bin ich 20.
Ich wohne immer noch zuhause, habe meine Ausbildung als Goldschmiedin geschafft. Finanziell geht es mir gut, denn im Gegensatz zu meiner Schwester kann ich gut mit Geld umgehen.
Wir haben genug zu essen, wohnen in einem schönen Haus und mein Vater hat meiner Mutter und uns beiden Geschwistern Autos vor die Tür gestellt.
Eigentlich haben wir alles, was wir brauchen.
Aber mir wird das Leben zu kompliziert.

Wenn ich sehe, was mein Vater täglich an Briefen bekommt, um was er sich alles kümmern muß und welche Verantwortung er trägt, das wäre mir zu viel.
Heute kann ich ihn wegen allem fragen, aber was wird sein, wenn er mal nicht mehr ist oder nicht mehr kann?

Werbung

Ich finde das Leben, so wie es auf mich eindringt, als anstrengend, kompliziert und stressig. Der Umgang mit Whatsapp, Snapchat, Instagram und Facebook stellt sich mittlerweile für mich nur noch als Stress dar.
Wer da alles was von mir will, wer da alles beleidigt ist, wenn ich nicht so reagieren, wie er es sich wünscht!

Wenn ich abends so in meinem Zimmer sitze und Musik höre, dann denke ich oft daran, wie schön es wäre, tot zu sein. Diese Ruhe, diese Entspanntheit, niemand will was von einem.
Dieser Gedanke macht mich glücklich.

Haben Sie so etwas schon mal gehört? Ist das nicht ein schlimmer Gedanke? Was meinen Sie?

Eva (Name geändert)

Liebe Eva,

viele Menschen sagen ja, wenn sie so etwas hören: Das Leben ist doch so schön!
Ich sage Dir, das Leben ist nicht schön. Zumindest nicht immer.
Trennen wir mal die Begriffe Leben und Alltag auf.

Die Tatsache, daß Du geboren wurdest und die Chance hast, hier auf diesem Planeten eine gewisse Zeit leben zu können, die ist schön. Das hat sehr viel Wertvolles an sich und ist ein Geschenk, über das ich persönlich mich freue.
Ich freue mich, daß ich lebe. Wäre nur ein Spermawurm schneller gewesen, wäre nicht ich, sondern ein anderer hier. Es gäbe mich nicht. Das könnte mich nicht traurig machen, denn wenn es mich nicht gäbe, wüßte ich auch nichts davon und könnte es nicht bedauern.
Aber so gibt es mich und das ist doch schön. Und es gibt Dich, und das ist auch schön.
Wenn ich Schönes sehe und Schönes erlebe, dann freue ich mich über dieses Leben. Ich denke dann oft, wie schön es doch ist, daß ich das erleben darf.
Und jetzt, da ich langsam ein alter Mensch werde, da denke ich natürlich auch, wie schön es ist, daß ich das noch erleben darf.

Du schreibst mir, daß Du in geordeneten und behüteten Verhältnissen lebst. Also hast Du, was Deine Lebensumstände anbetriftt, keinen Grund, Dein Leben nicht zu mögen. Das weißt Du auch.

Was Dich anstrengt, das ist der Alltag. Unser Leben besteht aus vielen Alltagen und einigen Sonnentagen. Die Sonnentage sind es, die unser Herz hüpfen lassen und die uns Lebensfreude empfinden lassen.
Die Alltage sind die graue Suppe, in der die Sonnentage vorkommen.

Der Alltag bringt viele unangenehme und lästige Verpflichtungen mit sich. Das finde ich auch oft zum Kotzen. Mein Leben besteht vor allem aus „Nein, nicht schon wieder“-Momenten. Eben hast Du erst eine unangenehme Sache durchgestanden, da schlägt schon wieder die nächste stressige Geschichte auf.
Irgendwie scheint es kein Ende zu nehmen und es reiht sich Verpflichtung an Verpflichtung, Aufgabe an Aufgabe und schreckliche Post an noch schrecklichere Post.
Oft dreht sich der Alltagsstress um Geld, aber noch viel häufiger um Zwischenmenschliches.

Da kann man schon leicht zum Alltagshasser werden, das verstehe ich gut.

Du schreibst, daß Dein Vater die ganze Verantwortung übernimmt und daß Dir das zu viel sei, käme es einmal auf Dich zu.
Nun, auch Dein Vater und auch ich waren mal jung. Irgendwann waren wir so alt wie Du. Und da kam auch irgendwann der Tag, an dem wir alles alleine und alles zum ersten Mal machen mußten.
Es ist die Aufgabe der Eltern, die Kinder fit für ein Leben außerhalb des Nestes zu machen. Aber so ganz und für alle infrage kommenden Situationen wird das nie gelingen.

Aber Dein Vater hat das geschafft, ich habe das geschafft und jeden Tag schaffen es Millionen junger Leute, die ihren Alltag bewältigen müssen. Irgendwie geht es also.

Jeder denkt hin und wieder über den Tod nach.
Und ja, ich stimme Dir zu. Der Gedanke an ganz viel Ruhe, an eine stressfreie Situation, in der endlich mal keiner was von einem will und fordert, der Gedanke hat was.

Aber Ruhe und Entspannung zu haben, bedeutet, daß man sich in der Alltagssuppe auf das Fettauge eines Sonnentages setzt und das Graue, Stressige hinter sich läßt und für einen Moment vergißt.
Dann kann man aus der Ruhe und Entspannung Kraft schöpfen.

Wenn Du tot bist, nimmst Du Dir keine Auszeit, aus der Du nach einer gewissen Zeit ausgeruht und entspannt wieder zurückkehrst. Das ist endgültig. Dein Bewußtsein schaltet sich -nach allem was wir wissen- endgültig ab, es gibt Dich nicht mehr.
Du wirst keinerlei bewußten Vorteil aus diesem Zustand ziehen können.

Du kannst auch den Alltag nicht abschalten, indem Du stirbst. Sterben bedeutet, daß Dein Leben zu Ende ist.
Aber Du betrachtest diese Welt aus Deinem Bewußtsein heraus. So kannst Du überhaupt erst Schönes und Stressiges wahrnehmen und für Dich selbst festlegen, was Stress und was schön ist.
Ohne Bewußtsein, ohne Leben, ja da gibt es alles das nicht, Du bist einfach nur weg.

Es mag vielleicht auf dieser Welt Plätze geben, an denen die Menschen stressfreier und von weniger Verpflichtungen geplagt leben. Aber Nachbarn hat man überall. Existenzsorgen wird man auch überall haben.
So gesehen, ist es also fast egal, wo man lebt.
Wenn es also nicht der Ort ist, der es ausmacht, so sind es die Umstände.

Und Umstände kannst Du ändern.
Ich würde Dir raten, daß Du mit Deinem Vater sprichst. Erzähle ihm von Deinen Sorgen um die Verantwortung. Laß Dir von ihm erklären, wie Steuer und Versicherungen funktionieren.
Er soll Dir eine Einweisung in diesen Teil des Alltags geben. Bitte ihn darum, Dir schrittweise etwas von der Verantwortung abzugeben, die er für Dich übernommen hat.
Je mehr Du jetzt schon selbst erledigen kannst, umso weniger hart wird der Schritt, wenn Du mal auf Dich alleine gestellt sein wirst.

Was den Umgang mit sozialen Medien anbetrifft, so ist hier jeder seines Glückes Schmied.
Facebook beispielsweise sendet mir immer wieder solche Meldungen:

Facebook teilt mir also mit, meine Reaktionsquote läge bei 41% und ich müsse schneller auf Benachrichtigungen reagieren, um mindestens eine Reaktionsquote von 90% zu erzielen. Nur dann wird das merkmal „reaktionsfreudig“ auf meiner Facebook-Seite angezeigt.

Abgesehen davon, daß die Zahlen 41% und 90% gar nichts über meine Reaktionsfreudigkeit besagen, soll mich das nur dazu verleiten, noch häufiger bei Facebook reinzuschauen und noch mehr auf irgendwas zu reagieren. Facebook macht mir so künstlichen und absolut unnötigen Stress.
Das heißt, sie versuchen es. Ich handele nämlich nicht wie erhofft. Mich interessiert dieses Geschwurbel nicht und ich mache dann Facebook an, wenn ich Bock darauf habe.

Ähnlich ist es bei Instagram. Irgendwann taucht neben dem Instagram-App-Symbol auf meinen Handy eine rote 1 auf. Da liegt also was für mich vor. Das ist aber gar nicht so. Instagram will nur, daß ich mal wieder was auf Instagram mache.

Und so funktionieren viele Netzwerke. Schon die Betreiber wollen mich stressen und zu mehr Aktionen verleiten.

Schlimmer aber als die Betreiber sind die anderen Nutzer. Der eine ist beleidigt weil er mir ein „Like“ gegeben hat und ich nun nicht im Gegenzug jeden Scheiß von ihm „like“.
Ein anderer ärgert sich, weil er bei Whatsapp täglich einen tollen Status einstellt und ich die Frechheit besitze, mir diese Katzenscheiße nie anzugucken.
Und wieder ein anderer sendet mir täglich irgendwelche animierten GIFS auf denen Katzen Angst vor Gurken haben oder 10 erstaunliche Fakten über Plastik verkündet werden.
Mich interessiert dieser ganze Mist nicht.

Ich denke mir: Sollen die sich doch ärgern, ich lasse mich doch nicht zum dauerklickenden Sklaven meines Handys machen.

Und genau das empfehle ich Dir auch.
Schalte zu allererst die Benachrichtigungsfunktion dieser sozialen Netzwerke ab.
Damit meine ich die Funktion, daß jede Aktion und jede neue Nachricht gleich auf dem Bildschirm Deines Handys aufpoppen und es vielleicht noch vibriert oder einen Ton macht.
Weise alle Leute darauf hin, daß sie Dir jederzeit eine Mail oder eine SMS schicken können. Auf diese oberflächlichen Dauerbenachrichtigungen gehe einfach nie mehr ein!

Und die Apps rufst Du nur auf, wenn DU Lust dazu hast. Lasse nicht andere darüber bestimmen, wann und wie oft Du da tätig werden mußt.

Der Tod ist keine Ruhephase. Er ist das Ende.
Aber den Alltagsscheiß, den kannst Du in den Griff bekommen.
Ganz bestimmt!

Bildquellen:

    Hashtags:

    Ich habe zur besseren Orientierung noch einmal die wichtigsten Schlagwörter (Hashtags) dieses Artikels zusammengestellt:

    Keine Schlagwörter vorhanden

    Lesezeit ca.: 11 Minuten | Tippfehler melden


    Hilfeaufruf vom Bestatterweblog

    Das Bestatterweblog leistet wertvolle Arbeit und bietet gute Unterhaltung. Heute bitte ich um Deine Hilfe. Die Kosten für das Blog betragen 2025 voraussichtlich 21.840 €. Das Blog ist frei von Google- oder Amazon-Werbung. Bitte beschenke mich doch mit einer Spende, damit das Bestatterweblog auch weiterhin kosten- und werbefrei bleiben kann. Vielen Dank!




    Lesen Sie doch auch:


    (©si)