Geschichten

Fett 4

Wie wird der Mund einer Leiche verschlossen?

Frau Seipel, die Mutter von Martin, kam in Begleitung einer Nachbarin. Als ich das hörte, hoffte ich nur, daß es nicht die vorlaute Frau mit der spitzen Nase sei. Sie war es nicht, es war eine sehr laute Frau mit Übergewicht in viel zu engen rosafarbenen Leggins, die mir die Bedeutung des Wortes Orangenhaut wieder einmal plastisch vor Augen führte. Ich muß aber gestehen, daß die Nachbarin sehr viel Mitgefühl mit Frau Seipel zeigte und ihr durch gar nicht mal allzu dumme Einwürfe und Anregungen hilfreich zur Seite stand.

Es ist ja ein Elend, da hat man einen Angehörigen verloren und ist von der Trauer total umnebelt und dann steht der Bestatter da und fordert eine Entscheidung nach der anderen. Da ist man schnell überfordert und so sehr man sich als Bestatter auch bemüht, alles genau zu erklären, man merkt sehr schnell den Zeitpunkt, ab dem die Leute einem nicht mehr zuhören und folgen können. Gut, wenn man als Trauernder dann jemanden hat, der einen mal in den Arm nimmt, einen mal stützt und einem beim Nachdenken hilft.

Da saß also nun diese kleine, schmächtige Frau Seipel mir direkt gegenüber. Ihre dünnen Finger waren ganz rot, so sehr knetete sie ein Papiertaschentuch, bis es kleine weiße Flocken abgab.
Das Wort ‚Schande‘ kam ihr nicht mehr über die Lippen. Mich interessierte es aber, warum sie das während der Abholung ihres Sohnes so oft gesagt hatte, deshalb fragte ich sie einfach. Eine gute Gelegenheit dazu ergab sich, als es um den Sarg ging.

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Manni hatte den dicken Mann im Keller einfach mit dem Zollstock vermessen. Besonders lang war er nicht, gerade einmal 1,70 Meter. Aber die Breite! Sie betrug über 90 Zentimeter und wurde nach unten größer. Aufgrund der dicken Oberschenkel konnte man Martin nur etwas breitbeinig in den Sarg legen. Die Hände über dem Bauch zu falten, daran war gar nicht zu denken. Für einen solchen Bauch sind alle Arme zu kurz.
Wir wußten immer noch nicht, wie schwer Martin wirklich war. Eine solche Waage besaßen wir nicht.
Gott sei Dank konnte uns die Druckerei, drei Straßen weiter, ihren Gabelstapler leihen, so ein Modell mit ausziehbaren langen Gabeln; und so ruhte der Dicke ganz profan, aber sehr praktisch, auf drei mit Spanngurten zusammengezurrten Euro-Paletten.
Ohne diese Hilfsmittel wäre es immer wieder ein Kampf mit der Schwerkraft gewesen.

„Alles der Herr Neutron schuld!“, hatte Antonia gemeint, als ich das Wort Schwerkraft im Zusammenhang mit dem dicken Mann erwähnt hatte. „Wer ist das denn?“, hatte ich gefragt und kopfschüttelnd ob meines mangelnden Wissens hatte das Moppelchen geantwortet: „Na, der mit dem Apfel!“
Sandy tippte sich an die Stirn: „Das waren Adam und Eva im Paradies.“
„Du hast überhaupt keine Ahnung, aber überhaupt keine!“, hatte Antonia geschimpft und ihrer Kollegin einen Vogel gezeigt: „Benjamin Neutron, der ist weltberühmt, der hat die Schwerkraft erfunden mit ’nem Apfel und den Blitzableiter mit ’nem Drachen.“

Anhand dieser kurzen Diskussion um den berühmten Entdecker und Staatsmann Benjamin Neutron, sah man aber, wie wenig Aufsehen der dicke Martin bei uns im Hause erregte. Das Gespräch fand nämlich direkt neben seiner Leiche statt.
Natürlich hatte jeder einmal den Dicken anschauen wollen, der mittlerweile nur noch komplett mit weißen Tüchern bedeckt und von seinen Spanngurten befreit war.
Aber keiner hatte irgendein abfälliges, abschätziges oder beleidigendes Wort in den Mund genommen.

Viel mehr waren logistische Fragen von Bedeutung. Mit dem VW-Transporter konnten wir Martin die Rampe zu unserer Tiefgarage, neben der unsere Werkstatt und die Kühlräume lagen, hinauf und hinunter transportieren. Mit dem Gabelstapler ging das nicht, denn für die Steigung waren die Gabeln zu lang und die Räder des Fahrzeugs zu klein. Allein den unbeladenen Gabelstapler da hinunter zu bekommen, war die fahrerische Meisterleistung eines Druckereiangestellten gewesen.
In den Aufzug paßte Martin auch nicht. Rein vom Gewicht wäre es gegangen, aber mit den Europaletten nicht, vielleicht später mit dem Sarg.

Ja, der Sarg. Es kam nur ein einziges Modell in Frage. Der Sarghändler hatte es im Lager stehen, mehr ein Schaustück, um die Leistungsfähigkeit des Unternehmens auch im Bereich der Übergrößen zu zeigen. Und mit seiner enormen Breite von einem Meter sah der Sarg, trotz des schönen Holzes und der tollen Verarbeitung ehrlichgesagt auch nicht gut aus. Er wirkte viel zu quadratisch, viel zu flach. Aber das war wie gesagt nur eine optische Wirkung durch die Breite. Man hat halt das normale Sargformat irgendwie vor Augen und staunt dann, wie groß so eine Kiste sein kann.

Die Verwaltung hatte sich von alleine gemeldet. Auch dort war man neugierig, was jetzt mit dem dicken Toten passieren würde. Ob der auf ihren Friedhof käme und ob wir an eine Einäscherung dächten. Man müsse das ja wissen, denn dann müßte das Grab ja sicher besonders groß ausgehoben werden, und ob der bei uns verbrannt werden könne, das wäre überhaupt fraglich.

Und genau vor diesen Fragen stand ich, als ich mit Frau Seipel über ihren Sohn sprach.
Das Sargmodell gefiel ihr, obwohl ich nur ein schlechtes Handyfoto vorzeigen konnte. Man merkte, daß sie froh war, daß es überhaupt einen Sarg für ihren Sohn gab.
„Frau Seipel, warum ist Martin denn so dick?“, fragte ich einfach. Ich fand und finde diese Frage nicht unhöflich. So dick zu sein, das ist eine Behinderung, etwas Besonderes, da kann man genausogut fragen, wie bei fehlenden Gliedmaßen oder anderen Besonderheiten.

„Der ist schon so dick geboren worden“, sagte die Frau und ich muß in dem Moment ziemlich irritiert aus der Wäsche geguckt haben. Vor meinem geistigen Auge lief da unweigerlich ein Film ab, mit Bildern, die ich nicht wiedergeben möchte.

„Also, ich mein‘, der war immer schon dick. Als kleines Kind schon.“

„Stimmt!“, schallte die laute Stimme der Cellulitis-Dame dazwischen: „Der war als kleiner Junge schon so dick, daß die anderen Kinder ihn immer Miss Piggy, Porky oder Fettwanst gerufen haben.“

„Der war aber nicht krank!“, wehrte sich Frau Seipel: „Der war eben einfach nur dick. Der wurde nicht satt. Wenn ich und mein verstorbener Mann einen Teller voll gegessen haben, hat der schon als Sechsjähriger zwei oder drei Teller voll leer gegessen.“

„Man kann einen Sack aber auch zubinden, bevor er voll ist“, warf ich ein und ohrfeigte mich innerlich wegen dieses Zitats. Mein Opa hatte so etwas immer gesagt.

„Den nicht!“, schallerte die Jogginghose: „Den hätten sie mal hören sollen! Der hat gequengelt und genörgelt, bis er wieder was zwischen den Zähnen hatte. Und wenn er zu Hause nichts gekriegt hat, dann ist er zu den Nachbarn und hat sich da durchgefuttert.“

„Der ist einfach immer dicker geworden“, stimmte Frau Seipel zu. „Ich hab‘ ja immer nur gedacht, wie soll der mal eine Frau finden?“

Aus den weiteren Erzählungen konnte ich entnehmen, daß Martin einfach gelinde gesagt ein Vielfraß war. Ein Junge, ein Mann, der als Kind und Jugendlicher schon dick gewesen ist und deshalb gehänselt wurde. Nach außen hin hat er sich wegen der Hänseleien nichts anmerken lassen und wenn es ihm zuviel wurde, hat er die anderen Kinder einfach umgeworfen, was ihm aufgrund seiner Masse leicht möglich war. Dann ist er nach Hause gelaufen, hat seiner Mutter etwas vorgejammert und die reagierte nicht, indem sie ihm sein Gewicht und sein Aussehen vorhielt, ihn zur Bewegung anhielt und das Essen rationierte, sondern sie machte ihm zum Trost Pudding mit Speck …

Es ist so platt, es ist so einfach, mehr steckte hinter dieser Geschichte nicht dahinter. Keine geheimnisvolle Drüsenkrankheit, kein psychischer Defekt, sondern einfach nur ein Junge, der seinen Frust mit Essen vertreiben wollte, und eine Mutter, die ihm durch Kalorien Trost spendete.
Und das Ganze lief in einer Spirale des Zunehmens ab. Je dicker er wurde, umso frustrierter war Martin, und umso frustrierter er war, desto mehr kapselte er sich ab und suchte Trost bei Pizza und Cola.

„Entschuldigen Sie die Frage, Frau Seipel, aber wie finanziert man so etwas? Ich meine, das ganze Essen kostet doch wahnsinnig viel.“

„Mein Mann hatte was geerbt und ich bin immer Putzen gegangen. Außerdem brauche ich selbst ja nicht viel.“

Irgendwann, so hörte ich es heraus, war Martin dann so dick, daß ihn seine Muskeln und Gelenke nicht mehr tragen konnten. Erst kam er nur mit Anlauf aus dem Bett heraus, dann mußte ihm seine Mutter beim Aufstehen helfen, dann konnte sie ihn nicht mehr alleine hochziehen, und dann war es vorbei. Der junge Mann lag von diesem Tag an nur noch im Bett. Abgesehen von drei Ausnahmen. Einmal war das vorherige Bett unter ihm zusammengebrochen. Deshalb hatte er ein Ehebett bekommen, aus dem man alle Lattenroste entfernt und mehrere Matratzen auf dem Boden aufgestapelt hatte. Einmal hatte der Hausarzt den Mann noch mal zum Aufstehen genötigt und ein anderes Mal war Martin aus dem Bett gefallen und man hatte ihn mit großer Mühe wieder aufgerichtet.
Ab dann hatte er nur noch im Bett gelegen.
Das Wechseln der Bettwäsche war eine Tortur. Über eine Stunde benötigte der dicke Mann, um sich auf die Seite zu rollen, damit auf einer Seite das Laken und die Decken gewechselt werden konnten. Dann rollte er sich auf die andere Seite und war von dieser Aktion so ermattet, daß er mehrere Stunden schlief.

„Aber der war so fröhlich. Der war immer gut gelaunt, das war so ein lieber Junge!“ Frau Seipel weinte.

Es war ihre Lebensaufgabe gewesen, den Dicken zu versorgen, ihn ständig mit Nachschub zu beliefern, ihn zu waschen, ihm bei der Toilette zu helfen, was alles nur im Liegen und im Bett ging.
Schockiert hat mich damals die Aussage der Nachbarin: „Oben herum hat er Zeichentrickfilme geguckt und Chips in sich hinein gestopft, und unten hat sie ihm die Bettpfanne untergehalten, damit er scheißen konnte, das ging ja auch nur, wenn er auf der Seite lag.“

Kopfkino!

Was bei mir blieb, das waren Unverständnis, Mitleid und der feste Wille, Martin eine schöne Beerdigung auszurichten.

„Was machen wir denn?“, fragte ich: „Soll er ein Erdgrab auf dem Friedhof bekommen oder möchte Sie ihn lieber einäschern lassen?“

Die Antwort kam wie aus der Pistole geschossen: „Einäschern lassen! Wenigstens einmal im Leben soll er genau so sein wie alle anderen. Ich habe gelesen, daß von einem dicken Menschen genausoviel Asche übrig bleibt, wie von einem Dünnen.“

-Fortsetzung folgt-


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Kategorie: Geschichten

Die teils auch als Bücher erschienenen Geschichten von Peter Wilhelm sind Erzählungen und Kurzgeschichten aus dem Berufsleben eines Bestatters und den Erlebnissen eines Ehemannes und Vaters.

Sie haben meist einen wahren Kern, viele sind erzählerisch aufbereitete Tatsachenerzählungen.

Ähnlichkeiten mit existierenden Personen sind zufällig, da Erlebnisse nur verändert-anonymisiert wiedererzählt werden.


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Lesezeit ca.: 12 Minuten | Tippfehler melden | Peter Wilhelm: © 23. April 2015

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