Geschichten

Tapferes Schneiderlein

Stell Dir vor, Du bist Handwerker. Nehmen wir an, Du seist ein Schneider.

Nun kommt jemand aus Deiner Verwandtschaft und bittet Dich, ihm ein Sakko zu flicken. Erst fühlst Du Dich ein bißchen in Deiner Ehre gekränkt, weil das Flicken eines Risses ja nicht gerade besondere Anforderungen an die Schneiderskunst stellt. Das hätte auch jede Änderungsschneiderin erledigen können.

Aber gut, Du magst den Verwandten nicht enttäuschen, er kommt mit seinem Sakko vorbei und Du stellst fest, daß nicht nur dieser eine, kleine Riß das Problem ist, sondern auch noch sämtliche Knöpfe fehlen und das Futter innen komplett herausgerissen ist.
Du seufzt, Du blickst auf den Stapel von halbfertigen Stoffteilen, die einen neuen Anzug für Kommerzienrat Huber ergeben sollen, und auf den anderen Stapel mit Teilen für das Kostüm von Freifrau von Hodelschwingh.
Okay, der Verwandte ist Dir lieb und teuer, er guckt auch so hilflos wie ein Kalb, das die Zitze am Euter der Mutter nicht findet, also greifst Du beherzt zu Nadel und Faden.

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Der Verwandte ist glücklich und will am nächsten Tag wiederkommen, um sein Sakko abzuholen. Pünktlich am nächsten Tag steht der Verwandte freudig erregt in der Tür und hat die zum Sakko passende Hose überm Arm.
Jetzt, da man ja das Sakko in Schuß gebracht hätte, dürfe natürlich die Hose nicht so jämmerlich aussehen.
Man nickt, man sieht das ein und macht sich bei der Hose ans Werk.

Dieser spezielle Verwandte ist Rentner, hat Zeit und Muße und kann deshalb jeden Tag vorbeikommen, und jeden Tag bringt er was Neues mit. Am dritten Tag ist es die Weste dieses Anzugs. Du hebst die Augenbrauen, signalisierst ihm, daß da noch andere Arbeit auf Dich wartet und der Fertigstellung harrt. Der Verwandte winkt ab, den ganzen Rest mache er dann selbst, er habe Dir ja jetzt schon zugeguckt und wisse im Prinzip, wie es geht.
Was er denn für die bisherigen Arbeiten schuldig sei, will er wissen. Er zückt seinen dicken Geldbeutel, der vor lauter 500ern fast aus den Nähten platzt.
In Anbetracht der Tatsache, daß Sakko, Hose und Weste einen überschaubaren Arbeitsumfang hatten, winkst Du ab. Warum soll man nicht sein Können, das hier hoffnungslos unterfordert ist, mal für einen lieben Verwandten pro bono auf dem Opferstock des Familienzusammenhalts darbringen.

Er wohne ja ansonsten weit entfernt im Ausland, in einem so tollen Haus, in einer so hübschen Gegend und lebe so im Luxus, da wird dann als Dankeschön mal eine Einladung fällig, schmunzelt vielsagend der stinkreiche Verwandte, man werde sich da schon einig.

Er hätte da noch zwei drei Kleinigkeiten, noch eine Jacke, noch zwei, drei Hosen, etliche Westen, aber alles etwas aus der Mode gekommen, vieles schon verschlissen. Eigentlich wäre mal was ganz Neues fällig.
Du ahnst, daß das nie ein Ende haben wird und sagst dem Verwandten, Du machst ihm jetzt einen Anzug, aber dann ist Ruh‘.

Du hast den Anzug fertig. Der Verwandte hat sich einen dunkelgrünen Lodenstoff ausgesucht, er liebt den Trachtenlook. Der Anzug wird abgeholt, das dankbare Gesicht des Verwandten entschädigt Dich für die Arbeit und Materiallieferung.
Er werde überall erzählen, daß Du das für ihn gemacht hast, verspricht er.
Am nächsten Tag hat er angefangen diesen Anzug mit alpenländischen Stickereien zu versehen, der Anzug ist verhunzt.

Du erbarmst Dich, und bringst das in Ordnung. Eine Mitarbeiterin von Dir bestickt den Anzug mit einer Abbildung eines mittleren Riemenschneider-Altars in Originalgröße.
Der Verwandte ist überglücklich und läßt einen Zettel mit einer Bestellung über 126 weitere Anzüge da.

Du rufst ihn an, er geht nicht dran, Du sprichst auf seinen Anrufbeantworter. Das gehe fei nicht alles für umsonst. Du sprichst aus Anstand nicht über Preise, erwähnst aber, daß solche Arbeiten in Münchner Fachgeschäften dies und das kosten würden, und was Du von anderen Leuten für eine solche Arbeit bekommen würdest.
Man solle abwarten, der Lohn sei von berauschendem Umfange, man habe sich da was ganz Besonderes ausgedacht, beruhigt einen der Verwandte, außerdem habe er ja früher mal den Geldbeutel gezückt und da haben man, in Anbetracht des guten verwandtschaftlichen Verhältnisses nur abgewunken.

Alle vier Stunden ruft er an. Wo denn der graue Anzug bliebe, man habe schließlich auch Verpflichtungen und könne nicht in Lumpen laufen.
Außerdem habe er überall herumerzählt, er habe diese Anzüge selbst genäht und wolle jetzt nicht als Depp da stehen.

Zorn schwingt in der Stimme des Verwandten mit, als Du abends seine Stimme auf dem Anrufbeantworter hörst.
Wenn das jetzt nicht zügiger ginge, habe er keine Probleme damit, sich für viel Geld auch einen eigenen Schneider anzustellen.

Du bist sauer! Am liebsten würdest Du ihm seinen ganzen Krempel vor die Tür werfen. Aber dann schweift Dein Blick auf die vielen, bereits zugeschnittenen Teile, die Du für den Verwandten begonnen hast, Du sieht die vielen Stoffballen in Farben und Materialien, die Du nie an jemand anders würdest verkaufen können, und Du betrachtest die vielen Schachteln mit Knöpfen und Riemenschneider-Applikationen … Das alles wäre für die Tonne.
Nochmals erklärst Du dem Verwandten, was das alles kostet, wie wertvoll Deine Zeit ist und daß man so etwas nicht kostenlos bekommt.

Das spiele doch im Allgemeinen alles keine Rolle und in Bezug aufs Geld auch im Besonderen nicht! Man solle doch einfach noch einen Zuschneider anstellen, und eine Näherin, und einen Applikateur! Das alles zahle er natürlich.
Die betreffenden Aspiranten sollen bitte Arbeitsproben, Referenzen, Lebensläufe und Führungszeugnisse direkt auf sein hochherrschaftliches Schloß ins Ausland schicken, wo er das dann alles prüfe.
Inzwischen käme er ja schon immer mit dem Flugzeug, erster Klasse, arabische Fluggesellschaft, so eine bei der Man für nur 5.000 Dollar Aufpreis seinen Sitz zum Bett machen könne und eine Dusche nebst Bauchtänzerin direkt am Platze habe…

Beim nächsten Besuch hat er 24 Ballen mit Stoffstücken dabei, er habe sich nun wieder einmal selbst am Zuschneiden von Stoff versucht. Hinz und Kunz, Kreti und Pleti, die Kanzlerin und die englische Königin seien informiert, was er und Du gemeinsam für eine hervorragende Arbeit leistet.
Sogar den ganzen anderen Verwandten habe er gesteckt, wie erfolgreich die Zusammenarbeit sei. Er habe die Ideen und Du würdest das perfekt umsetzen.
Und eine Bitte habe er noch. Ob Du nicht eventuell den anderen Verwandten erzählen könntest, daß er Schneidermeister sei. Er sei zeitlebens so betrübt darüber gewesen, es schulisch zu nichts gebracht zu haben. Zwar sei er durch seine Geschäftstüchtigkeit zum Millionär geworden, aber an ihm hafte der Makel, nur einen niedrigen Schulabschluß und gar keinen Berufsabschluß zu haben. Durch die tollen Kleidungsstücke könne er nun den Beweis antreten, doch etwas zu können. Er habe immer schon allen erzählt, er sei in Wirklichkeit ein Schneidermeister und wolle das nun im Alter nicht als Lüge enttarnt wissen und ob Du nicht, angesichts der da kommenden Belohnung, dieses Possenspiel mitspielen würdest.

Zähneknirschend stimmst Du zu, arbeitest Du bis spät in die Nacht, erledigst Deine eigentliche Arbeit fast nur noch nebenbei.
Ab und zu siehst Du, wieviel Geld das Portemonnaie des Verwandten enthält. Er knipst Dir dann immer vielsagend ein Äuglein.

Man müsse sich darüber keine Gedanken machen, Geld spiele keine Rolle!

Du triffst die englische Königin bei Edeka an der Käsetheke. Sie sei ja so angetan von den Schneiderkünsten des Verwandten, dieses berühmten Schneidermeisters. Und daß Du ihm auch noch die Knöpfe angenäht habest, sei ja sehr lieb. Ein so großer Könner, wie dieser Schneidermeister, dürfe sich nicht mit solch niedrigen Arbeiten aufhalten …

Nachdem er Dir bei Nacht und Nebel noch drei Ballen Stoff mit handgeschriebenen Anweisungen und Anzugbestellungen vor die Tür gelegt hat, ruft der Verwandte in einstündigen Abständen an. Man sei unfähig heißt es, es ginge ja gar nichts voran.
Man sei faul, das sei er so nicht gewöhnt. Man habe wohl den Überblick verloren und solle nun mal voran machen. Man habe ihn von Anfang an hinters Licht geführt, sei unehrlich und hinterlistig.

700 Stunden hast Du nun schon über einen Zeitraum von einem Jahr für diesen Verwandten gearbeitet. An die zwölf fertige Anzüge hat er schon bekommen, die anderen werden und werden nicht fertig, weil der Verwandte immer wieder Änderungswünsche hat.

Irgendwann läuft Dir die Galle über und Du sagst dem Typ die Meinung. So gehe das ja nun wirklich nicht. Aus dem Flicken eines Risses in einem Sakko sei nun die Anfertigung einer kompletten Herrenserie geworden. Ohne Geld seist Du nicht mehr bereit, ihm weiterhin Sachen zu liefern. Erst mal alles Bisherige bezahlen, auf das Kommende eine Anzahlung leisten und vor allem endlich mal die in seinem Auftrag eingestellten neuen Leute bezahlen!

Tief enttäuscht zieht sich der Verwandte aus dem gemeinsamen Projekt zurück. „Kündigung“ schreibt er über eine Mail an Dich, in der er erklärt, daß Du ihn nicht oft genug zurückgerufen hast, ihn im Unklaren gelassen habest, Deine Unfähigkeit sei grenzenlos und er habe sich nunmehr entschlossen, seine Garderobe selbst zu schneidern. Seine Stoffe und die halbfertigen Stücke solle man bitte in einen Karton packen und ihm zusenden. Er sei ja so enttäuscht, vor allem weil er noch vor hatte, Dir den Auftrag für das Schreinern einer Vielzahl neuer Garderobenschränke zu erteilen.
Man habe das verwandtschaftliche Verhältnis zerstört. Man habe ihn tief in die Scheiße geritten und das Scheitern des Projekts sei nur Deiner Unwilligkeit und Unehrlichkeit zuzuschreiben.

Eine letzte Bitte habe er noch, man solle ihm bitte die Adresse der Näherin nennen, die den Riemenschneider-Altar gestickt habe. Die könne ihm dann vielleicht beim Anbringen der Hirschhornknöpfe helfen, da tue er sich so schwer.

Du packst den ganzen Scheiß in eine Kiste und wirfst sie ihm vor die Haustüre. Bei Willi, dem guten Wirt von nebenan, betrinkst Du Dich sinnlos und schimpfst auf die buckelige Verwandtschaft.

Drei Wochen später triffst Du die Hirschhornknopfannäherin. Sie fährt einen neuen Audi A8 und sieht ganz verändert aus. Das komme von dem vielen Schmuck und der neuen Frisur, wirst Du belehrt. Sie habe ja jetzt Geld ohne Ende, der Verwandte habe ihr 129.000 Euro als kleinen Vorschuß bezahlt. Du schluckst und schaust verwirrt aus der Wäsche. Ja, das verstehe sie, sagt die Riemenschneiderin, der Verwandte habe ihr erklärt, er würde andere Verwandte ja wohl niemals bezahlen, das sei ja wohl unter der Würde einer guten Familienbeziehung. Außerdem sei die ganze bucklige Verwandtschaft sowieso nur hinter seinem Geld her.
Das höchste der Gefühle sei eine Einladung auf sein schloßähnliches Anwesen und eine dreiwöchige Bewirtung. Alles vom Feinsten!

Du beschließt, nie wieder was für Verwandte zu machen.

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(©si)