Geschichten

Die Fee der Nacht -43-

Der immer noch mit Handschellen gefesselte Ignaz schnaubte und vor Anstrengung hatten sich weiße Fäden in seinen Mundwinkeln gebildet. Er zog den Kopf zwischen die Schultern und duckte sich etwas.
Jojo, der Journalist, duckte sich ebenfalls und so standen die beiden Männer auf dem nur spärlich beleuchteten Parkplatz auf beiden Seiten des Chevrolets und belauerten sich. Ab und zu fiel ein schwacher seitliche Lichtschein von einem auf der Autobahn vorbeirasenden Auto für Sekunden auf die Szenerie.
Durch die hinteren Seitenscheiben beobachtete Jojo genau, was Ignaz tat und wenn der einen Schritt nach zur einen Seite machte, ging Jojo einen Schritt zur anderen.
So ging es minutenlang hin und her und der Journalist wußte, daß er bei einem direkten Zusammentreffen mit dem großen Mann unwillkürlich den Kürzeren ziehen würde. Am Ende standen sie wieder da wie zuvor, jeder auf einer Seite des Wagens.

Wie lange sollte dieses Spiel noch gehen?

Sollte er anfangen, laut zu rufen, fragte sich Jojo. Der Stau auf der Autobahn hatte sich aufgelöst und somit würde ihn dort sowieso keiner hören und ob einer der Fernfahrer die wohl in den Kabinen der geparkten Lastwagen schliefen, etwas von seinem Rufen mitbekommen würde? Oder übertönte das monotone Brummen des Kühllasters alles?
Jojos Blick fiel ins Wageninnere und auf dem Boden vor der Rückbank entdeckte er das Gewehr, das Petermann Ignaz abgenommen und anschließend dorthin gelegt hatte.
Würde es ihm gelingen, das Gewehr schnell genug zu ergreifen?
Er wußte, daß er nur diese Chance hatte um wieder Oberhand zu bekommen. Weglaufen würde nichts bringen, der andere wäre trotz seiner gefesselten Hände schneller und das mit dem Rufen hatte Jojo auch verworfen.
Ein Blick auf den Verriegelungsknopf der Tür – der war oben – Jojo entschied sich für die schnelle Variante. Nicht vorsichtig nach dem Türgriff tasten, sondern schnell zugreifen, ja, das würde er tun.

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Ein Griff, ein Ruck, einmal vorgebeugt und ins Wageninnere gegriffen, das alles war das Werk von höchstens ein, zwei Sekunden, Zeit genug für Ignaz loszuspurten und wild schreien auf Joswig loszustürzen.
Der schaffte es in letzter Sekunde einen Sprung nach hinten zu machen und mit dem Gewehr zwei Meter Abstand zum Wagen zu bekommen.

Joswig war kein großer Freund von Schusswaffen, wußte aber grundsätzlich damit umzugehen. Vorsichtshalber lud er das Gewehr einmal durch und registrierte mit Schrecken, daß er eine neue, noch nicht abgefeuerte Patrone herausrepetiert hatte.
Er war sich nicht sicher, ob sich nun eine neue Patrone im Lauf befand. Ließ sich dann das Gewehr verriegeln? Joswig war sich nicht sicher. Er hätte es aber sein können, denn tatsächlich hatte er zwar unnötigerweise eine Patrone ausgeworfen, aber gleichzeitig auch eine neue und zwar die letzte ins Patronenlager vorgeschoben. Aber das wußte der Journalist nicht.

Ignaz, der angesichts des Gewehrs wie versteinert stehengeblieben war, grinste, als er die Patrone zu Boden fallen sah, denn er war sich sicher, daß keine Kugel mehr im Lauf sein konnte.
Was Ignaz nicht wußte, Petermann hatte, während er Ignaz vom Jagdsitz aus zum Auto vor sich her getrieben hatte, eine der Patronen von der Brüstung nachgeladen.

Langsam setzte sich der Große in Bewegung. Nur einen kleinen Schritt machte er, lauernd darauf, was der Journalist tun würde.
Joswig wich etwa einen Meter zurück, vergrößerte dadurch etwas die Distanz zwischen ihm und Ignaz, und hob das Gewehr.
Ignaz machte noch einen kleinen Schritt, grinste immer noch und machte eine wiegende, tänzerische Bewegung in den Hüften, um sein Gegenüber zu verunsichern und seine Überlegenheit zu demonstrieren.
Noch einen großen Schritt wich der Journalist zurück und stieß mit dem Rücken an den Kühllaster, weiter ging es nicht.

Der Große hob seine mit Handschellen gefesselten Hände, bleckte die Zähne und Joswig rief: „Stopp!“
Doch Ignaz machte keine Anstalten stehen zu bleiben.
Da schwenkte Jojo das Gewehr nur etwas nach unten, sandte ein kurzes Stoßgebet zum Himmel und zog den Abzug durch.
Der Knall war ohrenbetäubend und wurde von der glatten Wand des Kühllasters verstärkt und dann zwischen den anderen LKW mehrmals hin und her geworfen.
Der Schuß traf Ignaz nicht, wie Jojo es beabsichtigt hatte, ins Knie, sondern in den Oberschenkel und riß den großen Mann wie einen gefällten Baum von den Beinen.

Als der Schuß verhallt war, dauerte es endlose Sekunden, dann ging gleich in mehreren der geparkten LKW Licht an und von überall her kamen verschlafene Männer in Unterhosen und Jogginghosen herbei gelaufen.
Ignaz wand sich vor Schmerzen, jammerte und fluchte. Die Wunde blutete heftig, aber nicht stoßweise. Joswig war froh darüber, denn er glaubte daran erkennen zu können, daß er Ignaz nicht zu schwer verletzt hatte.
An die Kabine des Lasters gelehnt ließ sich Jojo langsam nach unten gleiten und setzte sich auf den regennassen Boden.

„Wasse loss hier, Cheffe?“ rief einer der Fernfahrer und ein anderer hatte schon sein Mobiltelefon am Ohr um die Polizei zu rufen.

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