Gegenüber vom Möbelland im Gewerbegebiet sind noch etliche Grundstücke unbebaut. Auf dieser Seite der Straße standen früher attraktive Wohnhäuser und Bungalows, heute stehen die meisten von ihnen leer und etliche sind auch schon abgerissen. Da soll noch ein Möbelland gebaut werden und ein Elektronikmarkt und ein Einkaufszentrum und und und…
Mitten drin, auf einem etwa 7 Meter breiten und 120 Meter langen Streifen, eingebettet zwischen einem ähnlichen Grundstück mit einem verfallenen Bungalow und einem als Kleingarten genutzten Grundstück wachsen heute hohe Bäume und dichte Büsche.
Ich glaube kaum, daß irgendjemand von den vielen Möbellandbesuchern eine Ahnung hat, was sich auf diesem Grundstück für Dramen abgespielt haben.
Irgendwann während der letzten Kriegstage oder kurz danach, es soll ein Donnerstag gewesen sein, begannen Leute aus der nahegelegenen Stadt auf diesem Grundstück ein Haus zu bauen. Die Menschen der zerbombten Stadt suchten dringend Wohnraum und so trug mach Trümmer, Steine, Bretter und Mobiliar zusammen und baute sich oftmals irgendwo irgendwas.
So entstand auch das Haus gegenüber vom Möbelland, das später von den Kindern gerne, in Anlehnung an Astrid Lindgrens Pipi Langstrumpf, ‚Villa Kunterbunt‘ genannt wurde.
Nur war die Villa Kunterbunt nicht wirklich kunterbunt und schon gar nicht war sie bunt, weil irgendjemand das schön fand, sondern sie war einfach aus den verschiedensten Materialien zusammengezimmert.
Den Ausgebombten nach dem Krieg war das egal. Hauptsache ein Dach über dem Kopf, ein Plumpsklo hinterm Haus und ein paar Quadratmeter, um sich Gemüse anzubauen.
Was später ein Idyll werden sollte, war damals dem nackten Überleben dienlich, völlig unromantisch.
Doch dann besserten sich die Zeiten und die beiden Familien, die in der Villa Kunterbunt drei oder vier Jahre gewohnt hatten, bekamen schöne neue Wohnungen in der Stadt und zogen da weg, das soll an einem Montag gewesen sein.
Danach fielen Haus und Grundstück in eine Art Dornröschenschlaf. Ein alter Mann bewirtschaftete den Garten, kümmerte sich aber nicht um das Haus.
Erst als dieser starb, kam Günther ins Spiel.
——
Günther arbeitete damals bei der Eisenbahn im Schichtdienst und hatte, nicht weit vom Möbelland entfernt, hinten über der Straße, wo ein Wohngebiet ist, ein kleines Einfamilienhaus für sich, seine Frau und seine beiden Kinder gekauft. Sein Junge war mit offenem Kopf geboren worden, schwer geistig behindert und der Liebling der ganzen Familie. Das ist oft bei Sorgenkindern so.
Eines Tages entdeckte Günther beim Spazierengehen mit seinem Hund das Grundstück mit der Villa Kunterbunt und dachte sich, das könne doch ein schöner Garten und Abenteuerspielplatz für seine Familie sein.
Es war gar nicht so einfach, den Besitzer des Grundstücks zu ermitteln, denn der alte Mann, der da vorher seinen Garten hatte, der hatte sich einfach nur darum gekümmert, weil es sonst keiner tat.
Selbst beim Kataster- und Grundbuchamt wurde Günther nicht fündig. Nach dem Krieg sei da so viel hin und her gegangen, daß man zwar wisse, daß das Grundstück letztlich der Stadt gehöre, aber es gäbe da eine Familie, der man in den Nachkriegsjahren ein lebenslanges Nutzungsrecht zugebilligt habe und so lange von denen noch jemand lebt, könne diese Familie über das Grundstück frei verfügen. Das sei ja auch der Grund, weshalb man die Villa Kunterbunt nicht längst abgerissen habe.
Immerhin komme ja irgendwann die Erweiterung des Gewerbegebietes und dann müsse sie sowieso weg.
Mit vielen Mühen fand Günther dann heraus, daß eine gewisse Frau Semmelbrot in Schwäbisch Hall der letzte Abkömmling jener Familie war, die die Rechte an dem Grundstück hatten. Und zu der fuhr er eines Tages hin.
Frau Semmelbrot war knapp über sechzig Jahre alt und erinnerte sich mit Freude an die schöne Zeit in der Villa Kunterbunt. In ihrer Erinnerung waren nur die verklärt romantischen Teile übriggeblieben, die Not und die mangelhafte Versorgung, all das war über die Jahre in den Hintergrund getreten.
Sie hatte sogar noch Fotos aus der Zeit und wußte ganz genau, daß sie die Rechte an dem Grundstück hatte. Sie war aber davon ausgegangen, daß das alles längst hinfällig sei, da sie sich ja schon Jahrzehnte nicht mehr um die Villa Kunterbunt gekümmert hatte.
Ein Stück Papier, ein Kugelschreiber und zehn Minuten Zeit, dann hatte sie Günther die Nutzungsrechte überschrieben. „Herr Günther Salzner ist hiermit berechtigt, das Grundstück in der Siebnerstraße 33 nach freiem Willen zu nutzen. Er zahlt dafür eine jährliche Pacht von 90 Mark.“
So kam Günther an das Grundstück.
——–
Schon am nächsten Tag begann der ganz große Kahlschlag. Günther hatte sich eine Kettensäge geliehen und sägte sich von der Straße aus zwanzig Meter durchs Gehölz, bis er einen Weg zur Villa Kunterbunt freigelegt hatte.
Jetzt konnte man das Haus auch von der Straße aus sehen und so kam es, daß irgendwem bei der Obrigkeit irgendetwas wieder einfiel und schon zwei Tage später standen die Beamten das erste Mal bei Günther auf dem Grundstück und wollten nur mal wissen, was er denn da mache.
„Ich mache mir hier einen Garten und bringe die Hütte wieder in Ordnung.“
Ja, das dürfe er doch gar nicht, das sei städtischer Grund und er solle fix mal seinen Krempel einpacken und noch fixer da verschwinden.
Günther präsentierte seinen „Pachtvertrag“ und erntete die üblichen Aussagen kommunaler Wichtigtuer:
„Nee, so geht das nicht.“
„Sie können doch nicht so einfach…“
„Das werden wir jetzt genau prüfen, aber ganz genau!“
„Machen Sie sich auf was gefasst.“
„Wir kommen wieder.“
Klar, Jahrzehnte hatte sich keiner richtig darum gekümmert, jetzt konnte man das Haus wieder sehen und da entstanden Begehrlichkeiten. Wahrscheinlich hatte man bei der Stadtverwaltung gedacht, dieses Grundstück habe man schon sicher, die nutzende Familie sei längst untergegangen, verschollen oder desinteressiert und nun hat da jemand einen aktuellen und auch noch gültigen Pachtvertrag.
Eile war keine geboten, das Gewerbegebiet sollte ja erst irgendwann mal kommen und es war absehbar, daß es so schnell nicht kommen würde. Jedoch griff die Stadt bei jedem freiwerdenden Grundstück erbarmungslos zu. Sicher ist sicher, was man hat, das hat man.
„Jetzt habe ich es aber und so lange die alte Frau Semmelbrot noch lebt, könnt ihr gar nichts machen“ sagte Günther deshalb eine Woche später zu den amtlichen Herren, die abermals sein sofortiges Verschwinden anordnen wollten.
Zähneknirschend -vor allem weil Günther Recht hatte- zog die Amtsmacht wieder ab. Normalerweise hätte sich die Verwaltung einfach zurücklehnen und abwarten sollen, solche Dinge erledigen sich oft von selbst…
Doch manchmal ist es ja so, daß sich da ein Beamter persönlich angepisst fühlt und dann entbrennt so etwas wie eine Hexenjagd. Und das ist doppelt schlimm, wenn es im Grunde um rein gar nichts geht.
Günther hatte das Grundstück im letzten halben Jahr auf Vordermann gebracht und war nun dabei, die Villa Kunterbunt zu renovieren.
Seine Kinder tollten auf dem Grundstück herum, bauten sich ein Baumhaus, gruben sich ein Schlammloch zum Suhlen und alle waren glücklich.
„Mein Gott, wir tun doch niemandem was. Hier gibt es niemanden, den wir stören könnten, vorne an der Straße wächst schon wieder alles zu und bald kann man auch nicht mehr aufs Grundstück schauen. Die könnten uns doch einfach in Ruhe lassen.“
Zwei Jahre später stand die Villa Kunterbunt da, wie sie noch nie da gestanden hatte. Das Dach war mit neuer Teerpappe versehen, die Wände außen gestrichen, innen tapeziert und von überall hatten Günther und seine Frau gebrauchtes Mobiliar zusammengetragen, um das gar nicht mal so kleine Haus einzurichten.
Man muß sich die Villa so vorstellen:
Da das Grundstück nicht besonders breit (dafür aber über hundert Meter lang) war, reichte die Villa genau von Grundstücksgrenze zu Grundstücksgrenze. So etwas war nur nach dem Krieg möglich, da hat man immer alle Augen zugedrückt, die Menschen brauchten ein Dach über dem Kopf.
Auf der rechten Seite, der Wetterseite, hatte die Villa gar keine Fenster, links gab es einen langen mit Weinreben überwachsenen Laubengang, der von der vorderen Veranda bis ganz nach hinten führte.
Ursprünglich muß die Villa mal aus zwei Räumen bestanden haben, an die man aber später noch einen und dann nochmals zwei Räume angebaut hatte. So war das Haus dann schließlich genau sieben Meter breit und gut zwanzig Meter lang.
Man darf sich aber nun nicht vorstellen, daß hier eine Luxushütte stand, sondern es war im wahrsten Sinne des Wortes ein Einfachstbauwerk.
Die dünnen Wände bestanden aus Trümmerziegeln unterschiedlicher Stärke, die niedrigen Decken aus Bohlen und Brettern und was zwischen den Decken und dem niedrigen Dach war, das wußte keiner so genau. Einen richtigen Keller hatte das Haus natürlich auch nicht. Nur unter dem vordersten Raum, der die Küche war, gab es einen Abgang, der in einen kaum telefonzellengroßen „Keller“ führte, in dem eine Pumpe ihren Dienst tat, die das Grundstück aus einem Brunnen mit Wasser versorgte.
„Heizen konnte man nur mit Kohle und Holz und wenn man das nicht gründlich machte, dann wurde alles schnell feucht und es roch immer modrig. Aber so lange wir uns da regelmäßig aufhielten, durchlüfteten und im Winter immer mal wieder heizten, ging es ganz gut. Ich hab ja später hinterm Haus eine große Sickergrube ausgehoben und das Plumpsklo durch ein richtiges Wasserklosett mit Häuschen ersetzt.
Nein, wohnen konnte man da nicht, aber als große Laube und zum Feiern war das Ding einfach super gut“, erzählte Günther später.
Es gab sogar Strom und einen Telefonanschluss auf dem Grundstück, nach dem Krieg hatten ja jahrelang Leute regelrecht dort gelebt.
„Ja nee, so geht das ja gar nicht“, argumentierte der Stadtbeamte. „Sie können doch nicht hinterm Grundstück in eine Grube scheißen und vorne mit einer Pumpe Wasser hochziehen. Da saufen Sie ja nur Bakterienbrühe. Das legen wir jetzt mal ganz schön still, aber sofort!“
„Dabei lag die Sickergrube etwas den Hang runter und das Wasser wurde ja aus über dreißig Metern Tiefe gefördert“, schimpfte Günther. „Ich habe dann damals Wasserproben gezogen und beim Chemiewerk in der Stadt prüfen lassen. Die haben mir für 80 Mark ein Gutachten gemacht, daß mein Wasser einwandfrei sei und sogar besser sei als das städtische Leitungswasser. Ich habe quasi meine eigene Heilquelle im Keller, haben die gesagt.“
Da konnte dann auch die Stadt nichts machen und erließ eine Anordnung, daß das Wasser von nun an jedes Jahr zu prüfen sei und die Sickergrube alle zwei Jahre entleert werden müsse…
Im Laufe der Jahre entwickelten sich der Garten und die Villa zur Hauptfreizeitstätte der ganzen Familie. Jede freie Minute brachte man dort zu und ich kann mir gut vorstellen, daß insbesondere die Kinder dort ein Paradies hatten.
Hinter dem Haus war im Laufe der Jahre ein regelrechter Spielplatz mit Schaukel, Sandkasten und Planschbecken entstanden.
Man grillte, man feierte, man pflanzte an und bei schlechterem Wetter saß man drinnen in der Küche und abends schlief man in den hinteren Räumen, es war für alle eine Insel im Trubel des Alltags.
—–
Günther und seine Frau hatten eine tolle Idee. Schräg gegenüber wurde ein Wagenpark der Post gebaut und zweihundert Meter die Straße runter wurden gleich mehrere Supermärkte und ein Gartencenter errichtet.
Warum also nicht vorne auf dem Grundstück eine Fertiggarage aufstellen lassen und von dort aus Obst, Gemüse, Mineralwasser, Limo und heiße Würstchen an die Bauarbeiter verkaufen?
„Die haben uns jeden Tag die Bude leer gekauft. Ehrlich, einer von uns war immer da und an manchen Tagen bin ich mittags nochmal zum Metzger und habe wieder 80 Würstchen kaufen müssen. Wir haben natürlich gewußt, daß das ein vorübergehendes Geschäft sein würde, denn irgendwann würden die ja mal fertig sein, mit dem Bauen. Aber da kam ja dann noch die Ausbildungswerkstatt von der Berufsschule und diese kleine Fensterfabrik. So drei, vier Jahre ist das gut gelaufen. Wir haben schön was nebenher verdient – und natürlich angemeldet und versteuert, ist ja klar.“
Eigentlich müßte man also sagen, daß es für Günthers Familie optimal lief, alles war schön und „in Butter“.
Bis eben jener Tag kam, es war ein Mittwoch, an dem Günther seinen Schichtdienst mit einem Kollegen getauscht hatte und früher von der Arbeit kam.
Vorne in der Garage lag die Ware offen und auf einer Würstchenpappe war mit Filzstift aufgekritzelt „Komme gleich wieder“.
Wo war seine Frau? Hatte die mal eben auf die Toilette gemußt? Holte sie Nachschub von hinten?
Die Kinder waren noch in der Schule, das wußte Günther, aber wo war die Frau?
Als erstes bediente Günther zwei LKW-Fahrer, denen er Cola und Würstchen verkaufte, dann ging er die fast 20 oder 30 Meter bis zur Villa Kunterbunt und als er näher kam, konnte er leise Musik hören.
Jetzt war ihm alles klar, seine Frau war in der Küche, um ein paar von den belegten Brötchen für die Kundschaft zurecht zu machen oder etwas vom Gemüse oder Obst zu putzen. So mußte es sein.
Frohgelaunt betrat Günther das geräumige Gartenhaus, wollte gerade zu seiner Frau sagen: „Warum bist Du nicht vorne? Mensch, da steht alles offen und jeder kann sich selbst bedienen!“, da stellte er fest, daß er sich getäuscht hatte. Seine Frau stand nicht in der Küche.
Aus dem Radio spielte es einen Bossanova und ein schnulziger Sänger versuchte sich in einem Gemisch aus Deutsch und Spanisch.
Langsam ging Günther von der Küche ins angrenzende Wohnzimmer, aber auch dort war niemand.
Allmählich stiegen in ihm Sorgen und Zweifel auf, irgendwas stimmte da nicht, irgendetwas war anders als sonst.
Noch ein paar Schritte und Günther war an der Tür zum angrenzenden Schlafraum. Er öffnete sie und schloß kurz die Augen. Er hatte Angst, seiner Frau könne etwas zugestoßen sein, Herzinfarkt, Schlaganfall oder so was, man hört das doch immer wieder, daß auch recht junge Menschen urplötzlich wegen so was tot umfallen…
Er wollte das ganz unbewußt gar nicht sehen, deshalb hatte er für den Bruchteil einer Sekunde die Augen geschlossen, während er die Tür vorsichtig öffnete.
Als er seine Augen wieder aufmachte, stockte ihm der Atem und er fühlte, wie innerhalb eines Augenblicks gleichzeitig sein Blut aus dem Kopf bis in die Beine sackte und im selben Moment voll mit Adrenalin wieder nach oben schoß.
Vor ihm im Bett lagen seine Frau und ein ihm völlig unbekannter Mann mit sehr ausgeprägter Körperbehaarung, beide nackt und sie trieben es so heftig miteinander, daß sie gar nicht mitbekamen, daß Günther eingetreten war.
Was nun folgt, das geschah alles innerhalb weniger Sekunden. So etwas passiert immer innerhalb weniger Sekunden, auch wenn andere hinterher Wochen und Monate Zeit haben, um diese Vorgänge genau zu untersuchen, die Sekundenbruchteile zu sezieren und daraus Verantwortlichkeiten und Schuld abzuleiten.
Günther sprang einen Schritt vor, begann wie ein Tier zu brüllen, packte seine Frau bei den Haaren und zog sie mit einem Ruck von dem stöhnenden Fremden herunter. Beide waren so erschrocken, als sei just in diesem Moment der Blitz eingeschlagen.
Günthers Frau landete nackt vor dem Schrank, wo sie auf dem Boden zu sitzen kam. Vor Schreck verfiel sie in Schnappatmung und begann zu weinen. Der behaarte Fremde hatte sich aufgerichtet, konnte nur ein „Ey“ sagen, dann traf ihn Günthers Faust mitten ins Gesicht und zwar so deftig, daß ihm sofort die Nase brach und der Mann blutend und vor Schmerz schreiend aus dem Bett sprang.
Was dann geschah, hat Günther später so beschrieben:
„Ich habe den Kerl, der übrigens ein Betonfahrer von der Baustelle war, so lange in den Arsch getreten, bis er von meinem Grundstück runter war. Ich hab‘ den nackt wie er war verjagt. So was macht man doch nicht, die Frau eines anderen bumsen! Und dann bin ich zu meiner Frau, die saß immer noch heulend vor dem Schrank, hab der Ihre Klamotten die Füße geworfen und gesagt: ‚Ich geh‘ jetzt mal ’ne Viertelstunde spazieren, wenn ich wiederkomme, bist Du verschwunden.'“
So wie er es sagte, so hat Günther es auch gemacht. In ihm kochte es, seine Fäuste taten ihm weh und er war kaum in der Lage einen klaren Gedanken zu fassen. Mit großen Schritten lief er einmal um das ganze Gewerbegebiet, was deutlich länger als eine Viertelstunde gedauert haben mußte.
Dann kehrte er zu seinem Garten und zur Villa Kunterbunt wieder zurück. Es warteten schon Leute vorne am Büdchen und er begann mit dem Verkauf von Wasser, Limo und Wurst. Dann erst ging er mal kurz nach hinten, seine Frau war nicht mehr da und so saß er da allein und verlassen in seiner kargen Küche und grübelte, ob er nun richtig oder falsch gehandelt hatte. Dann kamen seine Kinder aus der Schule und freuten sich schon darauf, hinter der „Villa“ in den neu aufgestellten Swimming-Pool springen zu können.
Es verging etwa noch eine Stunde, dann hörte Günther das Tatütata von mehreren Polizeiautos und kurz darauf konnte er die flackernden Blaulichter näher kommen sehen. Gleichzeitig schossen ihm zwei Gedanken durch den Kopf: ‚Da ist auf einer der Baustellen was Schlimmes passiert‘ und ‚Die kommen mich jetzt holen, weil ich dem Arsch die Fresse poliert habe‘.
Günther hatte Recht! Sie kamen ihn holen. Aber sie holten ihn nicht wegen des „Arsches“, sondern sie sprangen aus den Wagen, gleich sechs Mann, fackelten nicht lange und drückten ihn auf den Boden, legten ihm Handschellen an und erst als er schnaubend auf dem Rücksitz eines der Streifenwagen saß, eröffnete man ihm, er sei vorläufig festgenommen, weil er unter dem dringenden Tatverdacht stehe, vor einer halben Stunde in seinem Wohnhaus seine Frau erschlagen zu haben.
———-
Günther brachte den Rest des Tages und die ganze Nacht im Verhörraum des Polizeipräsidiums zu.
Die Verhöre seien endlos gewesen und immer wieder habe man ihm die gleichen Fragen gestellt, auf die er die immer wieder gleichen Antworten gegeben habe.
Das Schlimmste für ihn sei aber gewesen, daß ihn niemand aufgeklärt habe, worum es überhaupt ging.
Aus den Vorwürfen, die man ihm machte, konnte Günther erkennen, daß seine Frau tot war, genauer gesagt, daß sie erschlagen worden war.
Auf seine Frage: „Wie ist es denn passiert?“ bekam er nur ein höhnisches Lachen als Antwort: „Das werden Sie uns ja wohl am besten sagen können.“
Man versuchte alles, um Günther zu einem schnellen Geständnis zu bringen, doch der blieb bei seiner Version. Er habe dem Betonfahrer ein paar aufs Maul gehauen und seine Frau vor die Tür gesetzt. Während die wohl ins gemeinsame Wohnhaus gegangen sei, habe er einen Spaziergang durch das Gewerbegebiet gemacht.
Ob es dafür Zeugen gebe, ob ihn jemand gesehen habe, ob er denn nicht doch mal eben an seinem nahe gelegenen Wohnhaus vorbei gegangen sei, schließlich liege das doch auf dem Weg, die Zeit habe doch ausgereicht, mal eben kurz die Frau erschlagen, dann noch ein bißchen spazieren gehen und sich dann ins Büdchen stellen und Würste verkaufen. Das passe doch alles wunderbar zusammen.
„Das mag ja für Sie alles passen, aber ich habe meiner Frau nichts getan und finden Sie nicht, daß Sie es auch als Möglichkeit in Betracht ziehen müßten, daß ich nicht der Täter bin, sondern daß ich ein Mann bin, dessen Frau umgebracht worden ist und den Sie hier wie Dreck behandeln?“
Viel Eindruck machte dieser Appell nicht auf die Beamten, aber immerhin bekam Günther endlich was zum Rauchen und statt des Pappbechers mit Wasser auch einen Kaffee.
Es wäre ja auch für die Kriminalbeamten so einfach gewesen. Totschlag nach Ehestreit, Punkt, aus.
In der Bilanz der gelösten Kriminalfälle hätte sich das gut gemacht.
Überhaupt brüsten sich die Beamten der Abteilung „Leib und Leben“ ja sowieso mit ihrer außerordentlich hohen Erfolgsquote von über 90%. Im Gegensatz dazu werden nicht einmal 50% aller Einbrüche aufgeklärt.
Obwohl…, lösen können die Kriminalisten ja nur Fälle, die auch ein Fall sind. Der Omamörder, ein Pflegedienstler, der innerhalb von 10 Tagen fünf alte Frauen in ihren Wohnungen umgebracht hatte, um an Geld zu kommen, wurde ja nicht überführt, weil jemandem an einer der erstickten Leichen etwas seltsam vorgekommen wäre, sondern weil sein letztes Opfer, sich so gewehrt hatte, daß es überlebte und den Täter später melden konnte.
Erst danach kam man dahinter, daß die samt und sämtlich als natürlicher Todesfall abgehakten anderen Omas erstickt, gewürgt und förmlich zerquetscht waren. Der Obduzent: „Die sahen aus, als sei da ein Panzer drübergefahren, der Täter war ja sehr schwer und groß und hatte sich auf die gesetzt.“
Alte, kranke Leute sind irgendwann mit dem Sterben dran, da macht der Hausarzt dann auch mal schnell sein „natürliche Todesursache“-Kreuz, ohne genau zu untersuchen, es ist ja alles klar, es liegt ja auf der Hand…
Wer weiß, wie viele tausend Verbrechensopfer jedes Jahr beerdigt werden, ganz normal, ohne Brimborium, ohne Ermittlungen, nur weil zu schnell das falsche Kreuz auf den Totenschein gemacht wurde.
Alle diese Fälle jedenfalls fallen komplett aus der Mordstatistik heraus. Was keiner weiß, macht keinen heiß und wo kein Kläger, da kein Richter.
Wie praktisch wäre es gewesen, wenn die Beamten aus Günther ein schnelles Geständnis gepreßt hätten. Aber Günther blieb stur, legte irgendwann das Kinn auf die Brust, schob trotzig die Unterlippe vor, starrte auf den Boden und sagte gar nichts mehr.
Tausend Gedanken schossen ihm durch den Kopf, vor allem quälte ihn der Gedanke, was jetzt mit seinen Kindern passieren würde.
„Das Schweigen bringt uns auch nicht weiter. Sie machen alles nur schlimmer für sich. Noch ist es nur Totschlag, da wären Sie doch bei guter Führung noch vor der Schulentlassung Ihrer Kinder wieder draußen. Aber wenn Sie so weiter machen, ist es Mord und dann kommen Sie nie wieder raus.“
Quatsch, natürlich ist das Quatsch und später wollte auch kein Beamter so etwas gesagt haben.
Jedenfalls guckte irgendwann einer der Beamten auf seine Armbanduhr, gab den anderen ein Zeichen und damit war das Verhör vorerst beendet. Günther kam in eine Zelle, dort solle er sich mal auspennen, bald käme sein Pflichtanwalt.
Der Pflichtverteidiger kam aber nicht bald, sondern erst am Ende des nächsten Tages. Einen Blick in die Ermittlungsakten hatte er noch nicht werfen können, da gebe es noch nicht viel und die Sachlage stelle sich ja ganz klar dar. Günther habe seine Frau beim intimen Verkehr mit einem fremden Mann erwischt und zunächst versucht, diesen durch Schläge auf den Kopf zu töten, der Mann habe aber nackt flüchten können. Dann sei seine Frau in Todesangst vom Gartenhaus zum Wohnhaus geflohen, um sich in Sicherheit zu bringen. Dahin sei Günther ihr wutentbrannt gefolgt und habe ihr mit dem Marmoraschenbecher vom Wohnzimmertisch den Kopf eingeschlagen.
Günther saß da und sperrte das Maul auf. „Das hört sich ja so an, als ob Sie denen glauben“, gab er verwundert von sich und der Rechtsanwalt schaute ihn ebenfalls verwundert an. „Ja, war es denn nicht so? Ich denke, es ist alles klar.“
„Nein, nichts davon ist wahr. Meine Frau hat es mit einem anderen getrieben, der hat von mir ein paar in die Fresse gekriegt, das Schwein und meine Frau habe ich zum Teufel gejagt. Die ist dann weg und ich bin herumgelaufen, um den Kopf frei zu kriegen. Dann haben die Bullen mich geholt. Ich will jetzt endlich nach Hause.“
„Nach Hause? Sie? Na, daraus wird wohl vorerst nichts. Wissen Sie denn nicht, daß Sie in einer Stunde dem Haftrichter vorgeführt werden? Sie bleiben auf jeden Fall in Untersuchungshaft, das ist ja wohl mal klar. Sie haben schließlich Ihre Frau erschlagen.“
„Hab‘ ich eben nicht!“
„Das können Sie ja alles dem Untersuchungsrichter erzählen.“
„Nee, das muß ich zuerst Ihnen erzählen, Sie müssen mir als allererstes glauben.“
„Was ich glaube, spielt doch überhaupt keine Rolle.“
„Doch, wenn Sie nämlich nicht für mich sprechen und auch so tun, als sei ja alles klar, dann buchten die mich ein und auch noch für was, das ich gar nicht gemacht habe.“
Vor dem Untersuchungsrichter war der Anwalt dann gar nicht so, wie er sich bei Günther gegeben hatte. Er trat kämpferisch und sachkundig auf, verlangte die sofortige Freilassung seines Mandanten, schließlich lägen ja keinerlei Beweise vor und nannte zahlreiche Varianten, wie die Tat abgelaufen sein könnte. Schließlich könne ja auch der fremde Mann der Täter sein, nach dem habe man ja erstaunlicherweise gar nicht gesucht. Man habe sich sofort auf seinen Mandanten als Täter eingeschossen, wie das oft so der Fall ist und alle anderen Spuren gar nicht erst weiter verfolgt.
„Bringen Sie mir einen Zeugen, der Ihren Mandanten gesehen hat und der belegen kann, daß der Mann zur Tatzeit woanders war, dann sehen wir weiter“, lautete der Spruch des Richters und damit war es besiegelt, Günther kam ins Untersuchungsgefängnis.
Die Zeit dort war so schrecklich für Günther, daß er später kaum ein Wort darüber sprach. Nur die Untersuchung bei der Aufnahme, die schilderte er immer mal wieder. Nachdem er sich komplett hatte entkleiden müssen, verlangte man, daß er sich bückte, damit man ihn rektal untersuchen könne.
Daraufhin hatte Günther gesagt: „Moment mal. Man wirft mir vor, meine Frau erschlagen zu haben und mich dann seelenruhig wieder an meinen Verkaufsstand gestellt zu haben. Und Sie glauben allen Ernstes, ich hätte da zwischendurch irgendwann einen Gedanken daran verschwendet, ob ich mir nicht schnell noch was für den Knast in den Arsch schiebe? Ihr habt sie doch nicht alle!“
Und dann kam das in Gang, was einen Untersuchungshäftling zermürben kann.
Draußen lief alles weiter!
Die Polizei ermittelte und Günther konnte nichts machen, egal was für einen Quatsch die sich zusammenreimten, er hatte keine Chance, dagegen anzugehen.
Die Kinder kamen in unterschiedliche Heime, Günther konnte nicht beeinflussen, was mit ihnen geschah und es wurde auch noch so getan, als sei das jetzt sowieso für immer.
Die Welt drehte sich weiter, immer schneller und Günther saß auf ein paar Quadratmetern und war zur Tatenlosigkeit verdammt.
Wer würde sich um die Beerdigung seiner Frau kümmern?
Wie würde es weiter gehen?
——–
Im wesentlichen stützten sich die Vorwürfe gegen Günther auf die Aussage einer Zeugin. Seine Nachbarin, Frau Klemm, war auch diejenige gewesen, die die Polizei gerufen hatte.
Nach ihrer Aussage hatte sich alles wie folgt zugetragen.
Günthers Frau sei weinend und völlig aufgelöst angelaufen gekommen und so überhastet ins Haus gerannt, daß sie nicht einmal die Haustüre richtig zugemacht hätte.
Während sie selbst, also Frau Klemm, in ihrem Garten die Geranien gezupft hätte, was bei diesem Wetter viel Arbeit bedeute, denn da wachsen die wie Unkraut und da müsse man dann dabei bleiben, sonst sähe es nach kurzer Zeit aus wie Hulle, habe sie aber beobachten können, weil bei denen ja das Schlafzimmerfenster offen stand, daß Günthers Frau einen Koffer, also den Hellbraunen, nicht den mit dem Karomuster, vom Kleiderschrank herunter geholt habe.
Für die Ermittler und den Staatsanwalt war damit klar, daß Günthers Frau ihren Mann verlassen wollte.
Frau Klemm hatte sich auf den Blick von den Geranienkästen zum Schlafzimmer konzentriert und nicht mitbekommen, wann Günther das Haus betreten hatte. Auf jeden Fall hätte sie dann Günther auch auf einmal im Schlafzimmer gesehen und dann wäre dummerweise auf einmal nichts mehr zu sehen gewesen. „Wissen Sie, ich bin ja nicht neugierig, aber bei uns passiert doch sonst nie was.“
Und dann habe es ein Geschrei gegeben. Günther habe auf Spanisch oder sonst einer Sprache, die man im Ausland so spricht, auf seine Frau eingeschrien, vermutlich kenne er diese Sprache aus dem Urlaub oder aus dem Umgang mit den Bauarbeitern an seinem Büdchen und habe sich besonders die Schimpfwörter gemerkt. Die Frau habe auch geschrien, aber das habe sie nicht verstanden, weil das so hoch und spitz gewesen sei.
Dann habe es Rumms gemacht und es wäre schlagartig Ruhe gewesen.
Da sei ihr alles klar gewesen und sie habe ja sofort Bescheid gewußt, der Kerl verhaute seine Frau, und deshalb sei sie sofort in ihr Haus gelaufen, sie kann ja nicht mehr so schnell, Rheuma, und habe dann die Schutzmänner angerufen.
Durch die Gardine und die Schlitze des wegen der Sonne heruntergelassenen Rolladens hätte sie aber noch gesehen, daß Günther dann wenige Sekunden später aus dem Haus gerannt sei. Dann sei noch der Motor von Günthers Auto zu hören gewesen und dann nur noch Totenstille.
„Ich hab sofort gewußt, da ist was passiert. Ich habe zu meinem Mann, das war als der noch lebte, immer gesagt, daß eines Tages mal was passieren würde.“
Man kann den Kriminalbeamten ja fast keinen Vorwurf machen.
Da erwischt ein Mann seine Frau mit einem anderen Mann im Bett und rastet aus. Er schlägt dem Nebenbuhler ins Gesicht und zertrümmert ihm die Nase, dann erklärt er die Beziehung für beendet und wirft seine Frau raus.
Die läuft vom Gartenhaus, wo sich das alles zugetragen hat, zum 400 Meter entfernten Wohnhaus, um einen Koffer zu packen. Die Nachbarin von gegenüber sieht, daß der Beschuldigte auch im Wohnhaus ist und bekommt mit, daß es dort wohl eine Auseinandersetzung gibt, die damit endet, daß es auf einmal totenstill ist und daß der Beschuldigte in wilder Hast das Haus wieder verläßt.
Als dann nach dem Anruf der Nachbarin die Polizei am Ort des Geschehens eintrifft und das Opfer in einer Blutlache mit eingeschlagenem Schädel da liegen sieht, ist unter Berücksichtigung der Aussagen der Nachbarin ja alles klar.
Es gibt sehr gute Kriminalbeamte, keine Frage. Aber diese hier wollten einfach nur schnell einen Erfolg verbuchen und wenn alles doch so sonnenklar ist, wozu dann noch irgendwas in Zweifel ziehen und in andere Richtungen ermitteln?
Günther bestritt die Tat.
Ja, er habe seine Frau recht grob angepackt, als er sie von dem anderen Mann weggezogen habe und er habe dem „Dreckskerl“ auch „die Fresse poliert“. Das sei ja wohl sein gutes Recht, da solle man ihm mit irgendwelchen Gesetzen von Leib bleiben, das interessiere ihn nicht.
„Wenn meine Frau und irgend so ein Lump herummachen, soll ich mich dann mit einem Glas Rotwein in der Hand daneben setzen und sagen: ‚So, jetzt diskutieren wir das erst einmal in aller Ruhe‘? Nichts da, da gehört dann erst mal Ordnung gemacht und dann sieht man weiter. Da muß man Fakten schaffen“, sagte er und schlug dabei mit der Faust seiner rechten Hand in seine flache linke Hand.
Günther saß tagein tagaus in seiner Zelle. Bei dem Gedanken, daß draußen alles weiter lief, wurde er fast verrückt. Seine ganzen Gedanken wurden allein davon gelähmt, daß er sich den Kopf zermarterte, wie er aus dieser Zwickmühle entkommen konnte, wie er da hinein geraten war, was wohl wirklich passiert sein könnte und wo seine Kinder jetzt waren. Aber ein Gedanke machte ihm besonders zu schaffen. Er hatte ja, und das schien im Moment jeder vollkommen außer Acht zu lassen, seine Frau aus tiefstem Herzen geliebt.
Niemals hätte er etwas mit einer anderen angefangen und er wäre im Traum nicht darauf gekommen, daß seine Frau fremdgehen würde. Es war mehr die Enttäuschung, als denn schiere Wut, die ihn dazu veranlaßt hatte, im ersten Moment, in diesem Bruchteil einer Sekunde, so zu reagieren, wie er reagiert hatte.
Sein Zorn wäre nicht geringer gewesen, wenn er durch Zufall von jemand anderem erfahren hätte, daß seine Frau es mit einem anderen Kerl treibt. Aber die Sache wäre anders ausgegangen.
Nur im ersten Jähzorn war er überhaupt zu einer solchen Reaktion fähig und in seinem ganzen Leben hatte er erst einmal, und das war als junger Mann, mal mit einem anderen Kerl Raufhändel gehabt.
Und rausgeworfen hätte er seine Frau dann auch nicht. Er liebte sie doch.
„Keine Ahnung, wie das dann weiter gegangen wäre, aber ich hätte doch alles getan, um meine Frau nicht zu verlieren. Aber im ersten Zorn, wenn einem das Blut in den Kopf steigt… da habe ich eben gesagt, sie solle ihr Zeug packen und verschwinden.“
Aber alle um ihn herum taten so, als seien er und seine Frau verfeindet gewesen. Deshalb gab man ihm wohl auch keine Auskunft, als er immer wieder danach fragte, was denn mit seiner Frau nun geschehe, die müsse doch bald mal beerdigt werden.
Sein Anwalt war es, der eines Tages mit ein paar Blättern Papier vor seiner Nase herum wedelte. Ob denn seine Frau jemals etwas darüber gesagt habe, wie sie bestattet werden wolle.
Günther fragte nur, ob er denn bei der Beerdigung dabei sein dürfe und der Anwalt hob nur die Schultern. Das könne er natürlich, aber das sei keine gute Idee, meine er.
„Die wollte verbrannt werden, hat sie irgendwann mal gesagt, als wir bei Tante Trudel auf dem Friedhof waren. So ein kleines Grab, das nicht viel Arbeit macht…“
——–
Günthers Prozeß war auf nur zwei Tage angesetzt. Die Staatsanwaltschaft wollte sicher gehen, daß sie alle Indizien und die Zeugenaussage von Frau Klemm ausreichen ausführlich vorstellen konnte.
Günthers Anwalt hatte drei Zeugen laden lassen. Das erschien zunächst wie der hilflose Versuch, durch drei Personen, die von der Tat nichts mitbekommen hatten, den Leumund des Angeklagten gut aussehen zu lassen.
Daß einer dieser Zeugen dem Prozeß eine ganz überraschende Wendung geben würde, das ahnte zu diesem Zeitpunkt niemand.
Für Günther war es sehr belastend, als der Staatsanwalt Dr. Klippfisch fast einen ganzen Leitz-Ordner vorlas, in dem sein ganzes Leben öffentlich ausgebreitet wurde. Günther war erstaunt, was der alles wußte, da waren auch Kleinigkeiten dabei, die er selbst längst vergessen hatte. Fast eine Stunde dauerte es, als der Staatsanwalt in dramatischen Worten schilderte, was Günther für ein schlechter Mensch sei und wie es zu der Tat gekommen sei. Für etwas, das für Günther nicht länger gedauert hatte, als ein Blitz am Himmel, brauchte der wirklich fast eine Stunde.
„Die sezieren dich da. Die haben alle Zeit der Welt und vierzig Kilometer Papier, um alles haarklein aufzuschreiben und dir vorzuhalten. Und du sitzt da, als armes kleines Würstchen und kannst immer nur deine Version der Geschichte erzählen, die dir sowieso keiner glaubt.“
Günthers Anwalt hielt dagegen, daß sein Mandant bisher vollkommen unbescholten sei und überhaupt kein Spanisch könne.
Zunächst wirkte der Anwalt etwas unbeholfen und der geschmeidige Staatsanwalt schien Oberwasser zu haben, doch Günthers Anwalt hatte offensichtlich seine berufliche Gewandtheit nur scheinbar unter dem Mäntelchen der Unbedarftheit versteckt.
Man konnte es dem Staatsanwalt ansehen, wie zornig und verblüfft er zugleich war, als Günthers Anwalt die Hauptbelastungszeugin Frau Klemm innerhalb von nur zwölf Minuten so verunsichert hatte, daß diese nicht einmal mehr wußte, ob sie an dem betreffenden Tag Geranien oder Kakteen gezupft hatte.
Ja nein, gesehen habe sie Günther überhaupt nicht, aber wer soll das denn sonst gewesen sein?
Nö, sicher sei sie sich nicht wirklich, aber das sei ja immer nur Günther gewesen, der wohne doch da.
Also, so richtig gesehen habe sie den Täter nicht und überhaupt habe sie ja die Tat nicht gesehen, sondern nur gehört und ob das Spanisch gewesen sei, das wisse sie so genau auch nicht, jedenfalls sei es mal kein Deutsch gewesen.
Günther könne aber gar keine anderen Sprachen, hielt ihr der Anwalt vor und ließ dann den Koffer vor Frau Klemm hinlegen, den Günthers Frau vom Schrank gezogen hatte.
„Ja ja, das ist der, den erkenne ich genau wieder.“
Der sei doch aber eindeutig blau und weder hellbraun noch kariert. Ob sie denn überhaupt noch so gut sehen könne, daß sie hier und jetzt eindeutig behaupten könne, Günther gesehen zu haben oder ob es nicht doch ein anderer Mann gewesen sein könne.
Sie geriet ins Stottern, die Aussage ins Wanken.
Dann kam der Anwalt auf einen ganz anderen Punkt zu sprechen. Nach Aussage von Frau Klemm, habe Günther den Tatort ja mit dem Auto verlassen.
Das habe sie jetzt zwar auch nicht so genau gesehen, nur durch die Schlitze vom Rolladen, wie der Mann da weggerannt sei. Dann habe sie aber das Brummen vom Motor gehört und wie da ein Auto schnell wegfährt, da sei sie sich ganz sicher: „Da schwöre ich beim heiligen Bernhard, daß da ein Auto weggefahren ist.“
„Mehr so ein tiefes Brummen, ein normales Autogeräusch oder noch was anderes?“ fragte der Anwalt nach und wollte eigentlich nur auf die Tatsache hinaus, daß Günthers Auto seit dem Mittag am Gehwegrand vor der Villa Kunterbunt gestanden hatte und nicht bewegt worden war.
Doch Frau Klemm sorgte für die nächste Überraschung. Nee, das sei ja ein ganz eigenartiges Geräusch gewesen, von diesem Auto da, das habe so gezischt.
„Wie gezischt?“
„Ja vor dem Losfahren, so als ob man Luft aus ner prallen Luftmatratze lässt und dann ein paar Sekunden später hat das nochmals so gezischt, wie wenn man beim Fahrrad die Luftpumpe vorne zu hält und dann das Ding so zusammendrückt. Haben wir als Kinder immer gemacht. Dann zischt die Luft unten raus und der Finger, wo man das Loch mit zu hält, der wird ganz heiß. Der Wagen hat so laut geklappert und gebrummt, wie so’n Omnibus.“
Nach dieser Aussage hatte Günthers Anwalt ein fast schon dämliches Grinsen auf dem Gesicht und der Staatsanwalt verdrehte die Augen. Dem war klar, daß soeben seine wichtigste Zeugin wertlos geworden war.
Erstens konnte sie den Angeklagten doch nicht eindeutig als Täter identifizieren und mußte zugeben, daß sie nur EINEN Mann gesehen hatte, nicht DIESEN Mann. Zweitens hatte dieser Mann eindeutig in einer fremden Sprache geschrien, was für den gebürtigen Moselfranken Günther völlig untypisch war.
Drittens hatte sie ganz eindeutig das Abfahrgeräusch eines LKW mit Druckluftbremse beschrieben und nicht das von Günthers Opel.
Wenn kleine Kinder eine Pfütze sehen und niemand sie hindert, dann nehmen sie gerne Anlauf und springen dann mit beiden Füßen hinein, damit es schön spritzt.
Genau so nahm Günthers Anwalt nun Anlauf und sprang mit beiden Füßen in die Aussage von Frau Klemm hinein.
Er nahm den blauen Koffer, durchmaß nach einem fragenden Blick zum vorsitzenden Richter den Gerichtssaal, stellte den Koffer neben einem Saalbesucher auf den Boden, sodaß Frau Klemm ihn nicht sehen konnte.
„Schauen Sie mal Frau Klemm, ist das hier der Koffer, den sie gesehen haben?“ fragte er und hob den blauen Koffer dann hoch. Bevor Frau Klemm antworten konnte, bedeutete er ihr mit einem Handzeichen und den Worten: „Jetzt nicht antworten“, daß sie noch warten sollte.
Dann stellte er den Koffer wieder hin und hob den selben Koffer abermals hoch und fragte:
„Oder war es dieser hier? Na, was meinen Sie? Überlegen Sie genau!“
Frau Klemm wiegte den Kopf hin und her und man konnte sehen, wie sie sich das Gehirn zermarterte.
Dann nickte sie, spitzte die Lippen und sagte im Brustton der Überzeugung: „Der erste, ganz klar, der erste Koffer war es, der zweite ist zu dunkel. Ich bin mir ganz sicher.“
„Frau Klemm, der Angeklagte sitzt da drüben. Sie haben ja vorhin ausgesagt, daß sie diesen Mann kennen“, sagte der Anwalt, während er mit dem Koffer wieder nach vorne trat und auf Günther deutete. „Schauen Sie ihn sich doch noch einmal ganz genau an. Da steht ja noch ein Mann hinter meinem Mandanten, was hat der an?“ Dabei deutete er auf den Justizbeamten, der hinter Günther an der Tür stand.
Frau Klemm steckte ihre Zunge zum Mundwinkel heraus, so angestrengt kniff sie die Augen zusammen. Günthers Anwalt hatte darauf hinaus gewollt, daß die offensichtlich sehschwache alte Dame nun die Kleidung des Justizbeamten falsch beschreiben würde.
Doch was machte die? Sie sprang von ihrem Stuhl auf, schlug die linke Hand vor den Mund und rief:
„Mein Gott, der war es, ja, ich bin mir sicher, der da war es. Der hat die Frau von dem da tot gemacht. Den habe ich gesehen!“ Dabei deutete sie auf den Justizbeamten.
Das war der Moment, als im Saal Gelächter aufbrandete, was der Richter sofort unterband und in dem der Staatsanwalt seufzend in seinem Sessel zusammensackte.
An dieser Stelle des Prozesses kamen dann die drei weiteren Zeugen zu Wort. Fast schon hatte Günthers Anwalt auf deren Vernehmung verzichten wollen, so sicher war er sich, daß der Prozeß nun Frau Klemms Aussage platzen würde. Doch jetzt waren sie einmal da.
Man kann sich gar nicht vorstellen, wie oft und eindringlich diese Leute schon vernommen worden waren. Der eine kannte Günther schon jahrelang und arbeitete beim Getränkemarkt dort im Gewerbegebiet. Er schilderte, daß Günther ein ganz Netter sei, der keiner Fliege was zu Leide tun könne.
Der zweite war zu jener Zeit Polier auf einer der Baustellen gewesen und gab ab, es seien an diesem Tag Betonplatten geliefert worden. Das habe ein Subunternehmer eines Subunternehmers gemacht und die Fahrer seien alle aus Bulgarien oder Moldawien, auf jeden Fall so Wodkasäufer, so genau wisse man das ja nie und es sei ja auch egal, sowieso alles Polacken.
Der dritte Zeuge war ein Mann, der regelmäßig bei Günther Limonade gekauft hatte und eigentlich aussagen sollte, daß Günther ein ganz ruhiger und gemütlicher Typ sei.
Wie gesagt, die Männer waren alle mehrfach schon befragt worden. Doch jetzt vor Gericht sagt dieser Typ dann doch auf einmal: „Ja, ist doch klar, der kann das doch gar nicht gewesen sein. In der Zeitung hat gestanden, daß die Nachbarin um viertel vor den Schrei gehört hat. Genau um viertel vor war der Günther aber bei mir am Lager vorbei gelaufen, den hab ich ganz genau gesehen, mir war das aufgefallen, weil der so einen roten Kopf hatte und daher stampfte wie ein Walross.
Ich denk noch, was macht der Günther hier, um diese Zeit, da verkauft der doch in seiner Budengarage sein Zeug, aber wissen sie was, ich hab gedacht, dem ist vielleicht ne Katze weggelaufen oder so. Aber der war das, den hab ich gesehen, um genau viertel vor und die Zeit weiß ich, weil ich da kurz vor meiner Pause war und dingend brunzen mußte und überlegt hatte, ob ich noch vor der Pause schnell mal gehen soll.“
Die Sensation war perfekt!
Günther wurde freigesprochen und der Richter schrieb der Staatsanwaltschaft ins Gebetbuch, den richtigen Täter zu suchen und nicht den Erstbesten und Offensichtlichsten zum Täter abzustempeln. Eine Ohrfeige für den Staatsanwalt!
Nur Frau Klemm, die nach ihrer Aussage gleich mit dem Zeugenzettel zur Kasse nach unten gegangen war, stand da, als Günther mit seinem Anwalt das Gerichtsgebäude verließ und fragte einen der Zeitungsreporter: „Wie? War der das jetzt doch nicht?“
——-
Es interessiert die Leute ja eigentlich gar nicht, wie ein Prozeß ausgegangen ist. Wichtig für Ihren Umgang mit einem anderen Menschen ist da eher die Tatsache, daß der ja „immer von der Polizei abgeholt wird“ und „ständig seine Frau umbringt“ und daß ihm seine „Kinder weggenommen worden sind, die armen Kinder“.
Günther kehrte nach Hause zurück und stand vor dem Scherbenhaufen seiner Existenz.
Nun muß man wissen, daß Günther dazu neigt, seine Worte in leere Satzhülsen zu kleiden, sehr in Rätseln zu sprechen und immer wieder noch viel rätselhaftere Gegenfragen zu stellen.
Mit anderen Worten: Ich habe oft nicht verstanden, was er mir eigentlich sagen wollte.
Vielleicht sollte ich aber zunächst erzählen, wie ich Günther kennen gelernt habe.
Aber vielleicht ist es doch besser, wenn ich zuerst schildere, wie es mit Günther unmittelbar nach dem Prozeß weiter gegangen ist. Dann wird auch klar, warum ich ihn so und unter diesen Umständen kennen lernte. Jedoch muß man bei dem nun Folgenden berücksichtigen, daß ich mir das aus den rätselhaften Erzählungen von Günther, die sicherlich auch stellenweise nur seine Sichtweise wiedergeben, zusammenfügen muß.
Günther wurde aus der Haft entlassen, vor dem Knast von seinen Kindern, die ein Blumensträußchen in den Händen hielten, erwartet und dann fuhren sie in das Wohnhaus und lebten dort glücklich und zufrieden.
Schön, nicht wahr?
Aber leider eben nicht wahr.
Ich habe selten eine Lebensgeschichte gehört, die so von Schicksalsschlägen und dramatischen Ereignissen erfüllt war, wie die von Günther. Und demnach ist auch klar, daß es nicht mit „heiler Welt“ weitergegangen ist.
Günther hatte sich vor den Vorfällen, die zu seiner Festnahme und Inhaftierung geführt hatten, gerade ein neues Auto gekauft. Ein russischer Geländewagen, mit dem man auch mal was Schweres für Haus und Garten transportieren konnte, auf Abzahlung.
Finanziell war es für Günther bis zu seiner Haftentlassung ganz gut weiter gelaufen. Alle anfallenden festen Beträge waren automatisch abgebucht worden, doch jetzt war das Ersparte aufgebraucht und das Konto gehörig im Minus.
Aber das würde schon werden, schließlich hatte er ja eine gute Position bei der Bahn und ging wie selbstverständlich davon aus, daß man ihn weiter beschäftigen würde, schließlich war seine Unschuld ja bewiesen und ein ordentliches Gericht hatte ihn von jeglicher Schuld frei gesprochen.
Mit dieser Hoffnung verließ Günther also nun das Gefängnis und als das große, blaue Eisentor hinter ihm krächzend und quietschend über die Stahlschiene am Boden rollte und schließlich den Ausgang der Justizanstalt verschloss, da war es, als nehme ihm jemand eine zentnerschwere Last von den Schultern. Minutenlang stand er da, mit geschlossenen Augen und saugte die frische Luft durch seine Nasenlöcher ein.
Es hupte und Günther öffnete die Augen und sah auf der anderen Straßenseite seinen neuen Geländewagen. Sein Freund Horst, ein ehemaliger Arbeitskollege, beugte sich aus dem heruntergekurbelten Fenster und rief: „Na Alter, wie sieht’s aus? Lust auf ’ne kleine Spritztour?“
Dabei hielt er den Zündschlüssel aus dem Fenster und klingelte mit den Schlüsseln.
Günther hatte sich schon innerlich darauf vorbereitet, mit der Straßenbahn nach Hause fahren zu müssen und freute sich, daß Horst sich den Schlüssel besorgt und ihm den Wagen zum Knast gefahren hatte.
Flugs warf er seine Sporttasche auf den Rücksitz, Horst rutschte rüber und Günther setze sich ans Steuer. „Mal sehen, ob ich das noch kann“, sagte er und steckte den Zündschlüssel ins Schloss.
„Das verlernt man nicht, das ist wie Radfahren, das steckt in einem drinne“, meinte Horst und schlug seinem Freund auf die Schulter: „Los, lass uns fahren!“
Günther hatte natürlich nichts verlernt, Horst hatte da vollkommen recht. Aber das half alles nichts.
Sie waren etwa drei Kilometer durch den um diese Tageszeit recht dünnen Stadtverkehr gefahren, da kam es an der Ecke Rudolfstraße/Goethestraße zu einem folgenschweren Unfall.
Eine 23jährige junge Frau hatte an einer Ampel nicht angehalten und Günther rauschte ihr mit knapp 50 Sachen trocken und knackig in die Seite ihres ebenfalls noch recht neuen VW-Polos.
Zwar kam die Frau dabei durch die Wucht fast auf dem Beifahrersitz ihres Volkswagens zum Sitzen, doch war ihr, abgesehen von ein paar heftigen Prellungen, nichts weiter passiert. Horst hatte sich den Kopf angeschlagen und blutete aus einer Wunde über der rechten Augenbraue wie ein Schwein, aber auch ihm war nichts wirklich Ernsthaftes passiert.
Günther hingegen war in seinem Sitz so heftig nach vor geschleudert worden, daß er minutenlang wie tot in seinem Gurt hing.
Es folgte der übliche Auflauf von Neugierigen, dann rief jemand die Polizei und einen Krankenwagen und am Ende wurde Horst auf der Straße verpflastert, während Günther und die junge Frau in Krankenhäuser abtransportiert wurden.
Kurz erzählt wurde Günther schon am nächsten Tag wieder entlassen und abermals war es Horst, der ihn abholte.
Diesmal ohne Auto.
Das war nämlich kaputt, total kaputt.
„Komm, wir gehen nach Hause“, sagte Horst, hakte seinen Freund unter und meinte: „Da wär‘ noch was, was ich Dir sagen muß.“
„Was denn? Was Schlimmes?“
„Hm, schon…“
„Na, dann erzähl‘ mal, was soll mich jetzt noch aufregen können?“
Doch was Horst ihm erzählte, das regte Günther dann doch auf. Jutta, die Schwester seiner Frau, und Helmut, deren Mann, erhoben Anspruch auf das Haus von Günther und waren schon mehrfach mit dem Zollstock durch das Haus gegangen, so als sei es ihres.
„Wie kommen die denn dazu? Die haben doch den Kontakt zu uns abgebrochen. Was machen die in meinem Haus?“ regte sich Günther auf und Horst erklärte ihm: „Das wirst Du schon noch sehen. Jutta erbt einen Teil, das hat Deine Frau so verfügt und den Teil will Jutta haben. Du wirst sie also ausbezahlen müssen und da das Haus noch nicht abbezahlt ist, wird sich die Frage stellen, wer am Ende den längeren Atem hat.“
„Na, das ist ja wohl klar, den werde ich haben, das ist schließlich mein Haus. Da werde ich den längeren Atem haben“, wetterte Günther und die Leute in der Straßenbahn, die die beiden Freunde notgedrungen hatten nehmen müssen, drehten sich neugierig zu ihnen um.
„Auch finanziell?“ fragte Horst nach und fügte noch hinzu: „Recht haben und Recht bekommen – das sind manchmal zwei Paar Schuhe…“
——–
Man könnte ja nun glauben, Günther habe sein Haus sowieso gehört. Seine Hälfte plus die Hälfte von dem was seine Frau hinterlassen hatte und der Rest ging an die Kinder, oder so. Aber die Sache stellte sich dann doch etwas anders dar. Da Günther und seine Frau damals nicht einen Hausbau finanzieren> konnten, hatten Günthers Schwiegereltern ihm und seiner Frau finanziell großzügig beim Kauf des Hauses unter die Arme gegriffen und und sich deshalb mit ins Grundbuch schreiben lassen.
Nach deren Tod hatten Günthers Frau und deren Schwester die Anteile der Eltern geerbt, bloß hatte Günther lange schon verdrängt, daß seine Schwägerin diesen kleinen Anteil besaß.
Die Verstorbene hatte sich nichts Böses dabei gedacht, als sie ihrer Schwester einen Großteil des Hauses vermachte. Auch wenn die Schwestern sich nicht besonders nahe standen, so war die Schwester doch die Patentante der Tochter und Günthers Frau hatte sich wohl gedacht, daß auf diese Weise die Schwester enger gebunden würde und sich im Falle eines Falles um die Kinder kümmern würde.
Egal wie, am Ende war es so, daß Günther nur etwa ein Viertel des Hauses beanspruchen konnte und aufgrund seiner strapazierten finanziellen Lage gar nicht genug Geld hatte, um seine Schwägerin auszubezahlen.
Die aber hatte ja schon durch das Ausmessen der Wohnräume gezeigt, daß sie ein sehr starkes Interesse an dem Haus hatte und so kam es, daß Günther irgendwann aufgab, seine Habseligkeiten in Kisten und Kartons packte und vom Wohnhaus in die Villa Kunterbunt zog.
Ich erinnere mich noch daran, daß ich damals gesehen habe, wie Günther und Horst da Kisten schleppten und daß schon 14 Tage später ein Gerüst vorne am Haus deutlich zeigte, daß da jetzt jemand gründlich renoviert.
Allein über die schnippischen Auftritte der Schwester und ihres Mannes könnte man ein ganzes Kapitel schreiben, aber das erspare ich mir und den Lesern, denn es gab damals ganz andere Entwicklungen, die viel spannender waren.
Zum Beispiel war es ja noch immer völlig ungeklärt, wer Günthers Frau erschlagen hatte. Die müde anlaufenden Ermittlungen gingen nun in eine ganz andere Richtung und die Kriminalpolizei und Staatsanwaltschaft taten so, als sei das nun die neueste Erkenntnis der Welt: man suchte einen haarigen Lastwagenfahrer!
Die Baustelle, von der man annahm, dort könnte dieser Arbeiter Beton geliefert haben, wurde zwar von einem deutschen Bauunternehmen geführt, tatsächlich hatte man aber die verschiedenen Bautätigkeiten, also die Gewerke, an unterschiedliche Subunternehmer weitergegeben.
Die wiederum hatten auch wieder Subunternehmer, vornehmlich aus dem Ausland, beschäftigt und so kam es, daß auf der Baustelle fast keiner die selbe Sprache sprach. Allen gemeinsam jedoch war, daß kaum einer Deutsch konnte, man sich untereinander gar nicht kannte und die Ermittler sich schwer taten, da durch zu blicken.
Einige hundert Meter von der Baustelle entfernt hatten sich beispielsweise polnische Bauarbeiter eine Wagenburg aus Kleinwagen und Zeltplanen errichtet, in der sie unter jämmerlichen hygienischen Verhältnissen hausten.
Ein ganzes Rudel Bulgaren wohnte in drei Wohncontainern am anderen Ende der Stadt. Es hieß, die Bulgaren müßten immer verschwinden, wenn die Kontrolle kam.
Ein paar Zimmerleute aus Irland oder Schottland, das wußte keiner so genau, hatten sich auf dem ungenutzten Gelände unter der Autobahnbrücke im Süden der Stadt einige Wohnwagen aufgestellt.
Sagen wir es mal so, die waren alle haarig, vor allem die Bulgaren.
Mehr Anhaltspunkte hatte man nicht und viel weiter kam man auch nicht, denn die häufigste Antwort, die die Ermittler zu hören bekamen, lautete: „Nix verstehen!“
Und man muß natürlich dazu sagen, daß man in der Ermittlungsarbeit wohl auch ziemlich halbherzig vorgegangen ist. Zu groß war die Niederlage vor Gericht gewesen, als Günther, den man schon als Täter sicher überführt glaubte, freigesprochen worden war.
Hätte man nun nach kurzer Zeit den richtigen Täter gefunden, dann hätten Presse und Öffentlichkeit mit Recht gefragt, warum man den denn nicht gleich ermittelt habe.
Wenn es Günther schon nicht gewesen sein konnte, so sah die Polizei auf jeden Fall besser aus, wenn der wahre Täter der große Unbekannte blieb.
Günther begann also in jenen Tagen sein Leben in der Villa Kunterbunt, stellte den Verkauf von Gemüse und Limonade ein, als die meisten Bauarbeiten abgeschlossen und die Arbeiter weitergezogen waren und ließ den vorderen Teil des Grundstücks zuwachsen. Von der Straße aus sah man forthin nur noch die Garage und ansonsten sehr viel Grün.
Horst war ihm in dieser Zeit eine große Stütze, doch mußte Horst arbeiten, während Günther noch eine Krankmeldung hatte. Durch den Unfall hatte er sich einen Nackenwirbel verletzt und diese Verletzung wurde immer schlimmer.
Dem maß Günther aber zunächst keine große Bedeutung bei. Viel schlimmer für ihn war, daß die junge Frau, mit deren Auto er zusammengestoßen war, nun auf einmal nicht mehr das arme, hilflose Mäuschen war, sondern über ihren Anwalt mitteilen ließ, er habe das Rotlicht der Ampel mißachtet und sei damit Schuld am Unfall.
Genau in dieser Zeit trat Leo in Günthers Leben.
Leo war ein Tunichtgut aus dem Hamburger Hafen. Jemand, der sich sein Leben lang für ein paar Mark am Tag mit Tagelöhnerdiensten durchgeschlagen hatte und kein geregeltes Leben führte.
Als ihm irgendeine klitzekleine Größe aus dem dortigen Milieu drohend ein Messer an den Hals gehalten hatte, hatte Leo seine sechs Unterhosen, zwei blaue Latzhosen und drei gestreifte Fischerhemden in einen Seesack gepackt und war schwarz von Hamburg bis hier in die Stadt gefahren.
Erst hatte er einige Wochen „Platte gemacht“, also auf der Straße gelebt, dann hatte ihm jemand den Tip gegeben, daß man auf dem Campingplatz unten am Fluß ganz billig im Zelt wohnen könne und wenigstens sanitäre Anlagen hätte.
Etwa zwei Jahre hatte Leo im Zelt gewohnt, was offiziell so gar nicht erlaubt war, von den Behörden aber geduldet wurde, dann war ein Saufkumpel vom Campingplatz besoffen in den Fluß gefallen und hinterher im Krankenhaus an Lungenentzündung gestorben. Und dieser Saufkumpan hatte Leo, im Beisein anderer Freunde der hochgeistigen Getränke quasi auf dem Sterbebett seinen Wohnwagen vermacht.
Tatsächlich haben solche mündlichen Testamente, geäußert vor genügend Zeugen, wohl sogar rechtliche Wirkung, aber das brauchte es gar nicht, niemand zweifelte Leos Inbesitznahme des kleinen Wohneis an.
Nur konnte Leo die nun vom Campingwirt geforderte höhere Standgebühr nicht bezahlen und so drohte man Leo, ihn mitsamt seines Wohnwagens einfach in den Fluß zu schmeißen.
Da kam Leo die Idee, bei Günther vorzusprechen, bei dem er früher schon mal ein paar Zwiebeln und den einen oder anderen Träger Bier gekauft hatte, und ihn zu fragen, ob er denn nicht seinen eiförmigen Kleinwohnwagen auf dessen Grundstück abstellen könne.
„Ich saß sowas von selbst in der Scheiße, da war ich froh, daß der Leo mit seinem Wohnwagen kam, dem es noch dreckiger ging. Eben noch war ich der Abschaum, der nur in einer Laube wohnt und eine Stunde später war ich auf einmal der, der einen Stellplatz vermietet auf dem einer in einem Wohnwagen lebt“, hat Günther später mal erzählt.
Nun muß man sich den Leo so vorstellen:
Ein kleiner, dürrer Mann mit sehr langen Gliedmaßen und einem langen und ebenfalls dünnen Hals. Der Kopf schien für diesen Hals viel zu groß zu sein, wenngleich bei näherer Betrachtung Leos Kopf kaum größer war, als der von anderen Menschen.
Über den Ohren hatte Leo zwei sonnengelbe blonde Haarinseln, die sich am Hinterhaupt nur mühsam noch trafen, ansonsten war er kahl, was man aber selten sah, denn die meiste Zeit trug er eine speckige Prinz-Heinrich-Mütze.
Gekleidet war Leo immer (und ich betone das Wort immer) mit einer ehemals blauen Latzhose mit dem Schriftzug „Stauerei Hansen und Sohn“ auf dem Latz und einem gestreiften, kragenlosen Fischerhemd. Dessen Ärmel waren sommers wie winters hochgekrempelt, damit man die verwaschenen, grau wirkenden Tätowierungen auf seinen Unterarmen sehen konnte.
Ich habe Leo oft gesehen, es war mir jedoch nie möglich, von diesem grauen Mischmasch mehr zu erkennen als einen Schiffsanker.
Nein, nein, der Fleck da neben seinem Auge, das sei keine Knastträne, da habe ihn der Tätowierer aus Versehen getroffen, als er besoffen vom Stuhl gefallen sei. Wer? Er oder der Tätowierer?
„Weiß ich nicht mehr, da war ich besoffen.“
An den Füßen trug der etwa 60jährige Leo ausschließlich ganz dünn gelaufene holländische Holzschuhe, so wie es selbst in Holland nur noch die ganz Alten oder Traditionsbewußten tun. Es gebe nichts Bequemeres und Haltbareres. „Im Sommer trägste die barfuß und im Winter mit dicken Stricksocken, das ist so schön muggelig.“
Alles in Allem behauptete Leo, er sei quasi jahrzehntelang zu See gefahren und er konnte Stunden am Stück von der Umschiffung von Kap Horn und Fahrten durch die Südsee erzählen.
Und jeder hörte ihm gerne zu, obwohl jeder wußte, daß Leo niemals in seinem Leben aus dem Hafen weg gekommen war. Das heißt, einmal ist er ja doch weg gekommen und zwar in jenes Wohnei, das nun hinter Günthers Garage zwischen zwei Pflaumenbäumen stand.
Leo wäre für den weiteren Fortgang der Geschichte völlig ohne Belang und ich hätte gar nicht von ihm erzählen müssen, jedoch sollte er eine Idee haben, die ihn, Günther und Horst auf die Spur des Mannes bringen sollte, der Günthers Frau erschlagen hatte.
——–
Nun darf man sich das nicht so vorstellen, als ob Günther und Leo die dicksten Freunde geworden wären. Das war immer mehr so ein Verhältnis zwischen Vermieter und Mieter oder Unter-unter-unter-Mieter.
Trotzdem verstanden sich die beiden ganz gut, hielten mehrmals am Tag ein kleines Schwätzchen miteinander, aber ansonsten ging jeder seiner eigenen Vorstellung von einem geregelten Tagesablauf nach.
Bei Günther bedeutete das, daß er Schriftstück um Schriftstück auf einer alten, aber immerhin schon elektrischen Schreibmaschine tippte, um seine Kinder wieder zu bekommen.
Ich habe ehrlich gesagt Jahre gebraucht, bis ich verstanden habe, wie viele Kinder Günther wirklich hatte und wie sich das alles im Einzelnen verhielt.
Ich schrieb ja schon mal, daß es manchmal recht schwierig war, aus Günther etwas heraus zu bekommen.
„Ja weißt Du, das muß man mehr im Gesamten sehen, das ist alles so eine Sache, wie würdest Du das denn beurteilen und kennst Du die Geschichte von Sokrates und dem Hund? So global ist das ausgerichtet, mehr so universell, also ich will mal sagen, jetzt frag ich Dich!“
So oder so ähnlich lauteten manche seiner Sätze und man saß dann da mit etwas offenem Mund und wußte nun gar nicht mehr, was man sagen sollte; hatte man doch eigentlich eine ganz klare Antwort auf eine noch viel klarere Frage erwartet.
„Nein wirklich, wie würdest Du das denn sehen? Die Frage ist doch eher was Unklares. Ich meine, die Sachlage an sich ist klar, bleibt bloß die Frage.“
Wie gesagt, es war nicht einfach, mit Günther zu sprechen.
Nach meinem damaligen Erkenntnisstand handelte es sich nicht nur um zwei, sondern um drei Kinder.
Offenbar hatte Günther, woher auch immer, ein Mädchen mit in die Ehe gebracht und zusammen mit seiner jetzt verstorbenen Frau hatte er zwei Kinder, auch ein Mädchen und dann noch den behinderten Jungen.
Alle Kinder waren in unterschiedlichen Heimen untergebracht und man wollte Günther partout nicht sagen, in welchen Heimen. Da sei erst noch einiges zu klären und man sei sich nicht sicher, ob das für die Kinder gut sei, wenn er jetzt dort auftauchen würde und bevor das Familiengericht nicht über seine Anträge entschieden habe, sei auch gar nicht daran zu denken, die Kinder wieder zu ihm zu lassen.
So verbrachte Günther jeden Tag eine bis zwei Stunden damit, Briefe von Behörden zu lesen, zu beantworten und abzuheften. Zwei bis drei Stunden widmete er sich der Gartenarbeit, denn allmählich wurde er mehr und mehr zum Selbstversorger.
Wie aus heiterem Himmel meldete sich sein Arbeitgeber und forderte ihn auf, seine Arbeit wieder aufzunehmen oder am soundsovielten des Monats beim Dienstarzt zu erscheinen.
Psychisch war Günther zu dieser Zeit ein Wrack. Man stelle sich vor: Da wird nicht nur der geliebte Ehepartner ermordet, sondern man läßt einem noch nicht einmal die geringste Chance, um diesen geliebten Menschen anständig zu trauern. Stattdessen wird man verdächtig, diesen Menschen umgebracht zu haben, wird vor den Augen der gafernden und neugierigen Meute vor Gericht gestellt, von den Boulevardzeitungen schon als „Schlächter“ und „Frauenmörder“ vorverurteilt und dann, nach erwiesener Unschuld, mehr oder weniger schutzlos mit einem Arschtritt wieder in die Freiheit gestoßen.
Und in dieser Freiheit fängt einen keine intakte Familie in einem trauten Heim wieder auf, sondern man ist sein Haus los, seine Familie ist zerschlagen und man ist auch noch krank, verletzt und einsam.
Es ist ja klar, wenn man schon so vom Pech verfolgt war, wie es bei Günther offensichtlich der Fall war, dann konnte es nicht ausbleiben, daß ihm auch noch die Mitschuld an dem Verkehrsunfall gegeben wurde. Dreimal mußte Günther bei der Polizei eine Aussage machen, dann wurde er wieder vor Gericht zitiert. Die gegnerische Versicherung hatte ihn verklagt, seine eigene Versicherung hielt dagegen, aber unterm Strich war es so, daß Günther am Ende seinen eigenen Schaden selbst zu tragen hatte.
Das allein ist schon schlimm genug, denn bei einem solchen Totalschaden ist man dann eben sein Auto los. Aber bei Günther kam ja noch hinzu, daß er das Auto noch gar nicht lange gehabt hatte und es ein finanziertes Auto war. Das heißt, es war mit einem Schlag das Auto und die hohe Anzahlung futsch und er sollte noch viele Jahre an den monatlichen Ratenzahlungen zu kauen haben.
Beruflich sollte es auch nicht rosig laufen. Durch den Unfall hatte Günther noch jahrelang Schmerzen in den Schultern und im Nacken und schluckte deswegen eigentlich unentwegt irgendwelche Schmerztabletten. Besonders bei feuchtem Wetter konnte er sich kaum bewegen.
Der Dienst- oder Vertrauensarzt war ein alter Komisskopp und fackelte nicht lange herum. Günther sei ein notorischer Krankfeierer, der sich nur vor der harten Arbeit im Freien drücken wolle und eine Kur oder Erholungsmaßnahme komme gar nicht in Frage.
Nein, Günther sei nicht nur berufsunfähig, sondern arbeitsunfähig und „selbst zur Ausführung leichter Tätigkeiten, die etwa im Sitzen ausgeübt werden können, nicht in der Lage“.
Auf diese Weise wurde Günther quasi von heute auf morgen in einem völlig unangemessenen Alter zum Frührentner mit Minirente.
Ein Versicherung, die ihm irgendwie weiter geholfen hätte, hatte Günther nicht. Weder war das Auto vollkaskoversichert, noch hatte er eine Berufsunfähigkeitsversicherung oder dergleichen.
„Das haben wir alles aufgelöst, weil wir doch das Haus hatten, da ist jeder Pfennig reingesteckt worden.“
Ganz genau konnte ich nie herausfinden, wie das mit dem Haus von Günther gelaufen ist. Wenn ich alle Puzzlesteine sortiere, dann schaut es so aus, daß ihm und den Kindern zwar ein gewisser Anteil gehörte, er aber letztlich nicht in der Lage war, die Ansprüche seiner Schwägerin zu befriedigen.
Natürlich hätte er die Schwester seiner Frau ausbezahlen können, aber wovon?
Stattdessen wedelte die mit dem Geld und war auch bereit, die laufenden Hypothekenraten zu bezahlen. Irgendwann ist Günther dann eingeknickt und hat für eine lächerliche Abstandssumme seine Unterschrift bei einem Notar unter die Überschreibungsurkunde gesetzt.
„Damit war das Haus weg und die konnten sich ins gemachte Nest setzen.“
Von alledem wußte ich noch gar nichts als ich Günther kennenlernte, denn der Mann kam zunächst wie ein ganz normaler Kunde zu mir. Er stand eines Tages in meinem Bestattungshaus und hielt mir ganz bescheiden zwei Briefe hin. Seine Frau sei vor längerer Zeit gestorben und er wisse jetzt gar nicht so genau, wo die denn beerdigt sei und nun wolle er das doch aber gerne wissen, weil er doch zu gerne ab und zu ein paar Blümchen dahin bringen würde.
Nun, das war das geringste Problem. Ein einziger Anruf beim Friedhofsamt reichte aus, um die Grablage zu erfahren und ich wunderte mich damals, wie es denn wohl dazu gekommen sein könnte, daß dieser Mann das Grab seiner Frau nicht kannte.
Normalerweise hätte man einfach gefragt, aber ich wollte nicht unhöflich sein und hatte den Kopf auch voll mit anderen Sachen. Deshalb schrieb ich ihm, ohne weiter darüber nachzudenken, den Namen des Friedhofs und die Feld- und Reihennummer auf einen Zettel.
„Wenn Sie noch Fragen haben, rufen Sie mich bitte an“, sagte ich noch, reichte ihm den Zettel, schüttelte seine Hand und dann war er auch schon wieder weg.
Wenig später hatte Günther dann mit meinem Zettel auf dem Friedhof vor einer großen Wiese gestanden und fragte sich, an welcher Stelle seine Frau wohl liegen könnte.
Man hatte sie einfach anonym bestattet, ohne Grabstein, Kreuz oder einen sonstigen Hinweis.
Günther war enttäuscht und legte das kleine Sträußchen Nelken in der Nähe des Kriegerdenkmals ab und ging nach Hause.
———
Die Männerwohngemeinschaft von Günther und Leo entwickelte sich im Laufe der Zeit da hin, daß die Männer stumm aneinander vorbei lebten. Man grüßte sich, man wechselte einen, höchstens zwei Sätze und ansonsten beschränkte sich die Kommunikation auf den Austausch so wichtiger Hinweise wie „Klopapier is‘ alle.“
Im Grunde waren Günther und Leo auch viel zu verschieden, als daß sie auf ewig dicke Freunde sein könnten. Es war eher Toleranz und Abstandhalten, die das Verhältnis ausmachten.
Ging es aber einem von beiden dreckig, dann war der andere für ihn da.
Wenn man Leo so erlebte, bekam man schnell den Eindruck, man habe es mit einem etwas minder bemittelten Trottel zu tun und einer der Hellsten war Leo ganz gewiss auch nicht. Aber er besaß so etwas wie eine fuchsige Bauernschläue und kam dadurch bei manchen Sachen leichter zum Ziel als Günther, der nur kompliziert und verquast formulieren konnte und immer alles viel zu umständlich anging.
Inzwischen hatte Günther aber trotzdem herausgefunden, daß seine drei Kinder in zwei Heimeinrichtungen untergebracht worden waren. Günther hatte zwei Mädchen, Monika und Ute, die erste muß damals so um die neun Jahre alt gewesen sein, das zweite Mädchen war etwa acht Jahre alt und dann war da ja noch Thomas, der schwer geistig behindert war und erst sechs Jahre alt war.
Die Mädchen waren in einer Einrichtung untergebracht, aber in verschiedenen Häusern auf einem riesigen Gelände und sahen sich nur bei seltenen Gelegenheiten. Thomas hatte man in ein Heim gebracht, in dem besonders auf seine Behinderung eingegangen werden konnte. Er konnte zu dieser Zeit nicht richtig sprechen, bewegte seine Arme sehr unkoordiniert und neigte dazu, die Kontrolle über seinen Stuhlgang zu verlieren.
Günther und seine verstorbene Frau waren aber in der Lage gewesen, es Thomas anzusehen und aus seinen unartikulierten Äußerungen entnehmen zu können, ob er hungrig war, ob er etwas trinken wollte oder ob er zur Toilette mußte. Daheim hatte er schon lange nicht mehr in die Hose oder ins Bett gemacht.
Im Heim mußte Thomas mit einem helmartigen, ledernen, gepolsterten Kopfschutz herumlaufen, damit er sich nicht verletzen konnte. Es hatte auch niemand Zeit, ihn zu beobachten und ihm zuzuhören, sodaß man ihm einfach eine Inkontinenzwindel angezogen hatte, die die meiste Zeit des Tages vollgeschissen war, um es mal mit deutlichen Worten zu sagen.
Monatelang hatte Günther dem Jugendamt und den Heimen geschrieben, aber anfangs nur abschlägige Bescheide erhalten. Zum Erhalt des Kindswohles sei es erforderlich die Kinder bis auf weiteres in den Einrichtungen zu belassen und damit die Phase der Neuorientierung nicht gestört würde, könne man auch keine Besuche des Vaters zulassen.
„Biste doof?“ fragte Leo ihn eines Tages, „Was schreibste denen immer wegen Besuchen? Du willst die doch gar nicht besuchen, Du willst doch daß die Kinder bei Dir leben können, odda?“
„Ja schon, aber guck Dich hier mal um, schau Dir an, wie ich hier hause, da bekomme ich doch meine Kinder nicht zurück.“
„Dummzeuchs! Haste mal gesehen, wie die Kindern von den Baracklern aufwachsen? Die Kinder von den Leuten, die die Stadtverwaltung selbst in diese Obdachlosensiedlungen eingewiesen hat? Denen nimmt auch keiner ein Kind wech, ne! Un‘ Dir haben’se die Kinners ja auch man gar nich weggenommen, die sind da nur untergebracht. Du muß‘ nen ganz anderen Weg gehen.
Räum‘ hier ma‘ auf, mach die Betten für die Kinder fein zurecht, pack den Kühlschrank voll und dann frachste nich brav und demütig an, ob Du die Kinder denn vielleicht, eventuell, möglicherweise mal sehen darfst, sondern dann stellst Du die Forderung, daß Deine Kinder sofort und gleich hier bei Dir wohnen dürfen. Nich herumzaudern und lange fackeln, sondern gleich ma‘ auffen Putz hauen. Ihr seid doch schließlich eine Familie und Du bist der leibliche Vater. Mann ey, stell Dich mal auf die Hinterfüße, Günna!“
Günther überlegte fast zwei Wochen lang, schrieb etliche Entwürfe dieses für ihn wichtigen Briefes, verwarf alles wieder, fing wieder von vorne an und schließlich hatte er einen Brief getippt, der im wesentlichen genau das enthielt, was Leo ihm gesagt hatte.
Er forderte die sofortige Rückkehr seiner Kinder in seine Obhut als leiblicher Vater und betonte, daß seine Kinder von ihm rundherum versorgt werden könnten.
Und diesen Brief schickte er dieses Mal nicht nur an das Jugendamt, sondern auch an das Familien- und Jugendgericht.
Einige Wochen lang passierte gar nichts und Günther hatte auch diesen Brief schon als weiteren erfolglosen Versuch abgehakt. Dann kam ein Anruf vom Jugendamt, in dem ihn ein städtischer Sachbearbeiter aber sowas von böse abkanzelte, daß Günther regelrecht Herzbeklemmungen bekam.
Was ihm denn einfallen würde, an das Gericht zu schreiben, wie er denn auf die wahnwitzige Idee komme, die Kinder zu sich zu holen, er sei doch vorbestraft, arbeitslos und wohne unter unzumutbaren Umständen quasi in der Asozialität.
Doch einige Tage später hielt Günther dann einen Brief auf schäbigem Recyclingpapier in den Händen, der ihn zu einer Anhörung einbestellte. „Dieses Schreiben wurde maschinell ausgefertigt und ist ohne Unterschrift gültig.“
Später konnte Günther mir nicht genau wiedergeben, ob er nun zum Gericht oder zum Jugendamt einbestellt worden war, aber nach allem was ich mir da so zusammenreimen kann, könnte es durchaus ein Termin bei einem Familienrichter gewesen sein.
Auf jeden Fall ist er dort in seinem viel zu engen dunkelblauen Anzug hingegangen, hatte sich die mittlerweile etwas üppig gewordene Haarpracht mit Gel sauber nach hinten geglättet und seinen Rübezahlbart sogar abgeschnitten und sich richtig glatt rasiert.
So saß er dann da, nach billiger Seife riechend auf der einen Seite des Raumes und auf der anderen Seite hatten drei Leute vom Jugendamt Platz genommen, zwei Männer, die von der ganzen Sache offensichtlich überhaupt nichts wußten und nur deshalb da waren, weil der Buchstabe von Günthers Nachnamen in ihren Zuständigkeitsbereich fiel und eine Frau, die mit spitzer Nase und kleinen Mausaugen ihren Mund in Günthers Richtung spitzte und ihn mit einem abschätzigen Blick von oben bis unten musterte.
Der Richter, Rechtspfleger oder Amtsleiter sei dann in den Raum gekommen, habe alle kurz mit einem Nicken und etwas Gemurmeltem begrüßt, dann durch seine Halbbrille einige Seiten der dünnen Akte studiert und schließlich mit dem Wort „Bitte!“ Günther aufgefordert, zu sprechen.
Günther stand auf, rieb sich verlegen die schweißnassen Hände an der Hose ab und erzählte dem Richter (nennen wir ihn mal so) von den schönen Zeiten, die er mit Frau und Kindern verbracht hatte.
Dann schilderte er, daß seine Frau durch eine tragische Tat ums Leben gekommen sei und er sich als Vater nun um seine Kinder kümmern möchte.
Ein kurzes Nicken des Richters bedeutete ihm, sich wieder zu setzen und dann reckte der Richter sein Kinn auffordernd in Richtung der drei Amtspersonen. Die blieben natürlich sitzen und sonderten der Reihe nach für Günther unverständliches Pädagogengewäsch ab.
Je länger die Leute vom Jugendamt sprachen, umso mehr runzelte der Richter die Stirn.
Schließlich begann er, immer ungeduldiger werdend, mit dem Kugelschreiben auf den Aktendeckel zu tippen und dann schnitt er der Frau vom Jugendamt, die gerade den schrecklichen Charakter von Günther thematisieren wollte, einfach das Wort ab, indem er sich wieder an Günther wandte und fragte:
„Sie sind doch nicht vorbestraft, oder?“
„Nein, ich war in Untersuchungshaft und bin freigesprochen worden.“
„Sie sind aber arbeitslos?“
„Nein, auch das nicht. Ich bin erwerbsunfähig und beziehe Rente.“
„Haben die Kinder bei Ihnen eigene Zimmer oder wie sind sie untergebracht?“
„Jedes Kind hat sein eigenes Zimmer, jedes Kind hat sein eigenes Bett, nur den Thomas den lasse ich bei mir im Zimmer schlafen, der ist ein wenig zurück und auf den muß ich aufpassen.“
„Wie sieht es mit der Schule aus?“
„Die Mädchen sind ja sowieso in die Schule gegangen, der Thomas sollte jetzt noch ein Jahr warten und dann in das Schwersterndienstwerk von der Kirche gehen, die haben da doch diese Schule für Behinderte. Die holen den sogar zu Hause ab und bringen ihn abends wieder. Die Schule von den Mädchen ist ja nicht weit, ich bin ja nur einmal über die Straße gezogen, da ändert sich doch nichts.“
„Und die Betreuung?“
„Betreuung? Sie meinen, weil die Mutter tot ist? Na, sehen Sie, wenn meine Frau ganz normal gestorben wär‘, hätte auch keiner danach gefragt. Nur weil die behauptet haben, ich wär‘ das gewesen mit meiner Frau, deshalb waren die Kinder vorübergehend weg. Die mußten ja wo hin. Aber ich bin das nicht gewesen, ich bin ein freier Mann und jetzt ist das Vorübergehende vorbei, jetzt können die Kinder wieder zu mir nach Hause kommen. Ich weiß, was eine Mama machen kann, das kann ein Papa nicht, Kinder brauchen eine Mama und einen Papa. Wenn da nur eine Mama ist, dann fehlt der Papa und wenn da nur ein Papa ist, dann fehlt denen die Mama. Von dem ganzen Alleinerziehen-Mist halte ich nich‘ viel. Kinder brauchen beides, ’nen Papa und ’ne Mama.
Aber da in diesem Heim haben die weder Papa, noch ’ne Mama; und was ist denn da besser für die Kinder? Ich meine, wenn’se wenigstens beim Papa sein können, dann wär‘ das allemal besser als so’n Heim.“
Der Richter nickte kurz, dann schaute er etwa fünf Sekunden scheinbar gedankenverloren auf einen imaginären Punkt an der Decke, klappte den Aktendeckel wieder auf und sagte:
„Nach den Maßgaben des Paragraphen… unter Berücksichtigung der Umstände… bei Einbeziehung der Familienhilfe… außerordentliches Unrecht geschehen… Zustände nicht weiter tragbar… Auferlegung von Sofortwirksamkeit…“
Dann klappte er die Akte zu und bedankte sich bei den Anwesenden.
„Tschuldigung!“ rief Günther, „Ich hab das nicht verstanden! Was ist denn nun Sache?“
Der Richter mußte kurz grinsen und setzte sich wieder hin, er war nämlich schon aufgestanden und hatte nicht daran gedacht, seine Entscheidung auch in einem Deutsch zu formulieren, das Günther verstehen konnte.
„Sie können selbstverständlich sofort Ihre Kinder zu sich holen. Die Kinder haben ein Elternteil, für eine Heimunterbringung besteht überhaupt kein Grund. Das Jugendamt wird Sie bei Ihren Bemühungen, die Kinder zu betreuen, unterstützen. Hierzu habe ich angeordnet, daß die Kinder- und Jugendhilfe bei Ihnen nach dem Rechten sieht. So hat das Amt eine gewisse Kontrolle und Sie haben Ihre Kinder wieder“, sagt der Richter und wandte sich dann an einen der Herren vom Jugendamt, die das Zimmer schon fast verlassen hatten:
„Herr Schneidereit, wie sieht es denn aus, wann können die Kinder bei ihrem Vater sein?“
„Er kann sie abholen, wenn wir die Sache bearbeitet haben und ihm die entsprechenden Bescheide zugesandt haben.“
„Also heute Abend?“
„Was?“
„Heute Abend, nicht wahr?“
„Aber das geht doch nicht!“
„Warum nicht?“
„Wir müssen doch erst….“
„Was müssen Sie?“
„Ja aber…“
„Nichts ja aber. Abern sie hier mal nicht so amtlich herum. Ich erwarte, daß der die Kinder bis heute Abend abholen kann. Bescheide tippen, das können Sie auch anschließend noch!“
Mit diesen Worten und einem abermaligen kurzen Nicken in Günthers Richtung war der Richter dann durch die rückwärtige Tür des Raumes verschwunden.
Von der anderen Tür blitzten Günther die fast schon feindseligen Blicke der Leute vom Jugendamt an.
Doch Günther war glücklich, er konnte gar nicht fassen, daß das alles so gut für ihn gelaufen war.
Doch als er die Blicke der Leute vom Jugendamt sah, da wußte er: Von dieser Seite kommt nichts Gutes auf ihn zu!
——-
Es war keine große Sache, die Kinder wieder zu sich zu holen. Günther ließ sich einfach von seinem Freund Horst zu den Heimen fahren, sprach bei der Verwaltung vor und konnte seine Kinder mitnehmen.
Wer glaubte, hier würden sich jetzt noch irgendwelche Schwierigkeiten auftun, die der brave Mann zu überwinden hatte, der irrt. Nein, ganz im Gegenteil, es entwickelte sich Harmonie und Glückseligkeit.
Auf dem riesigen Grundstück hinter der Villa Kunterbunt, wie Günther nun seine Laube konsequent nannte, hatte er ja einen großen Swimming-Pool aufgebaut und gemeinsam mit Seemann Leo, dem Untermieter aus dem Wohnei, ein Baumhaus gezimmert und wer in diesen Tagen dorthin kam, der erlebte ein Idyll.
So und nicht anders hatte sich Günther das vorgestellt. Seine Kinder waren bei ihm und gemeinsam als Familie konnten sie den Verlust von Ehefrau und Mutter verarbeiten und in Ruhe und Frieden leben.
Schön!
Morgens kam der Abholbus für den behinderten Thomas, der eine vorschulische Einrichtung für Behinderte besuchte, und die beiden Mädchen konnten selbst den kurzen Weg zur Schule laufen.
Günthers Tagesablauf begann stets mit einer großen Kanne Kaffee und ein paar selbstgestopften Zigaretten, jedoch niemals, ohne zuvor ein Marmeladenbrot gegessen zu haben.
Dann weckte er die Kinder und überwachte das morgendliche Treiben rund um das einzige Waschbecken in der Küche, wo man sich gleichzeitig wusch, die Zähne putzte, Frühstück machte und sich auch ankleidete.
Günther und die Kinder liebten dieses ritualisierte Wecken, Aufstehen und Fertigmachen, zu dem immer der gleiche Gute-Laune-Sender aus dem Radio dudelte. Vor allem der behinderte Thomas brauchte diese gleichmäßigen Abläufe, je mehr sich sein Leben in festen Schienen bewegte, umso befreiter konnte er denken, leben und atmen. Alles, nur keine Veränderungen!
So mochte Thomas morgens immer eine durchgeschnittene Scheibe Brot und auf der einen Hälfte mochte er Erdbeer-Rhabarber-Marmelade und auf der anderen Hälfte Nutella. Beide Brothälften mußten exakt gleich groß sein und nur so und nicht anders mußte für ihn der Tag beginnen.
Einmal war die Erdbeer-Rhabarber-Marmelade alle, weil seine Schwester Monika den letzten Rest genommen hatte. Günther machte ihm dann eine Hälfte seines Brotes mit reiner Erdbeermarmelade und glaubte, den kleinen Unterschied würde Thomas doch gar nicht bemerken…
Doch da hatte Günther sich geirrt. Das folgende Theater, als Thomas schreiend und weinend das Frühstücksbrettchen mit dem Erdbeermarmeladenbrot wegstieß und dann den ganzen Tag nicht mehr ansprechbar war, wird Günther nie vergessen. Der schwer geistig behinderte Junge konnte eben Veränderungen nicht verarbeiten.
Doch nur kaum ein Vierteljahr währte das Idyll, dann wurde das Familienglück jäh gestört. Eines Tages erschienen ein Mann und eine Frau vom Jugendamt und erkundigten sich bei Günther durchaus freundlich und Hilfsbereitschaft zeigend nach dem Wohlergehen der Kinder. Er habe ja wohl sicherlich nichts dagegen, wenn sie sich mal umschauen würden und man wolle ja nur einmal alles sehen, nur für den Bericht, reine Routine, das wäre immer so, das habe in der Regel auch keine Nachteile.
Günther empfand das Ansinnen der beiden Amtspersonen als Zumutung. Aus seinen Monaten im Gefängnis waren ihm unangekündigte Zellendurchsuchungen und das Fremdbestimmtsein an sich ein Gräuel und sofort stieg in ihm ein Gefühl der Ablehnung und des Widerstands auf. Doch er zwang sich, ruhig zu bleiben, rang sich den letzten Rest Freundlichkeit ab, zu dem er in dieser Situation in der Lage war, und führte die Leute durch die hintereinander liegenden Räume seiner „Villa“.
Ja ja, das sehe ja alles ganz ordentlich aus, es gebe ja Betten und Räume genug, sicher, die sanitären Einrichtung ließen zu wünschen übrig, aber sie entsprächen den allgemeinen Richtlinien, ob das da oben Feuchtigkeit an der Decke wäre, wo denn ein Schreibtisch für die Schularbeiten sei und wo denn bitteschön die Badewanne sei.
Das Klo wolle er demnächst noch richten, es funktioniere aber, erklärte Günther und auch die Reparatur des Daches sei schon fest eingeplant, dort liege schon die Rolle Dachpappe und einen Schreibtisch bräuchten die Kinder nicht wirklich, man habe ja einen Wohnzimmertisch und einen Küchentisch. Eine Badewanne habe er hingegen nicht vorzuweisen, aber die Kinder sind ja sowieso nachmittags dauernd im Garten, schwimmen und brausen sich draußen ab und am Spülstein in der Küche könne man sich ganz vortrefflich waschen.
„Den Thomas, der ist ja noch klein, den stelle ich zweimal in der Woche da in den Spülstein und seife den von oben bis unten ab, das mag der so. Meine Kinder sind immer sauber, die riechen immer so schön nach frisch gewaschen.“
Fein, das sei ja alles fein, hieß es und schon waren die Leute vom Amt wieder weg. Das war ja noch mal gut gegangen.
Aber nur scheinbar. Schon drei Tage später kam der schriftliche Bescheid, das Amt habe angeordnet, daß Günther eine Familienhelferin vom allgemeinen Wohlfahrtsverband der Kirchen und Kommunen beigesellt werde, die ihn bei den Aufgaben in Haushalt und Kinderbetreuung unterstützen solle.
Außerdem wurde ihm die Auflage gemacht, binnen vier Wochen eine geeignete Waschgelegenheit zu schaffen, die ungestörtes Duschen oder ein Vollbad ermögliche. Auch das Dach sei dringend zu reparieren, die Amtspersonen hätten den ersten Anflug einer Schimmelbildung an der feuchten Stelle festgestellt. Das sei komplett zu beseitigen.
„Da war noch nie Schimmel gewesen, da ist bloß eine Teerbahn durch und wenn es ganz stark von Norden her regnet, was nur alle Jubeljahre mal vorkommt, dann habe ich da einen feuchten Fleck, so groß wie eine Handfläche. Der trocknet dann wieder ab und alles ist gut. Man sieht hier von drinnen bloß diesen Schatten vom Feuchten, da ist kein Schimmel.
Aber gut, ich hab das dann sofort repariert, die Dachpappe hatte ich ja schon lange da liegen, ich habe bloß immer darauf gewartet, daß Horst mal seine Gasflasche und den Brenner mitbringt, diese moderne Dachpappe die tut man ja nicht mehr draufnageln sondern die wird gleich aufgeflammt und klebt dann von selbst, wie Pech und Schwefel.“
Unter einer Familienhelferin stellte sich Günther eine etwas dickere, ältere Frau vor, die burschikos auftritt, aber vor allem beim Kochen, Waschen und Putzen hilft.
Günther konnte kochen, aber nicht sehr phantasievoll. Eine ordentliche Hackfleischsoße und Gulasch, das waren seine Spezialitäten. Dazu gab es immer Nudeln. Außerdem konnte er Bratwürste, Kartoffeln in allen Variationen und Braten mit Soße. Hinter einem Vorhang im kleinen Vorraum vor der Küche bewahrte er jede Menge Nudeln und eine große Zahl von Konserven mit Gemüse auf.
So ausgerüstet konnte er seinen Kindern jeden Mittag ein ordentliches Essen hinstellen.
Das heißt, mittags aßen nur die Mädchen, da saß er dann dabei und aß nur ein „Versucherle“ mit. Seine Hauptmahlzeit nahm Günther stets erst um 17 Uhr ein, wenn Thomas wieder nach Hause gebracht wurde.
Thomas aß nur Nudeln mit Ketchup und Gemüse. Auch mit einem unpanierten Schnitzel konnte man ihm eine Freude machen und ab und zu mochte er auch ganz gerne Fischstäbchen; aber das mußte er selbst wollen. Hatte Günther ein Schnitzel oder Fischstäbchen für ihn, mußte er ihm aber zuerst immer eine kleine Portion Nudeln mit Ketchup hinstellen, ohne das war Thomas nicht glücklich, und dann konnte Günther seinem Sohn noch einen Teller mit dem anderen Essen anbieten. Oft nahm Thomas das ohne weiteren Kommentar, ohne weitere Regung. Aber meistens war es der Fall, daß er sich heftig schüttelte, das andere Essen wegschob und auf den Topf mit den Nudeln zeigte.
Er wollte eben keine Veränderungen, alles mußte immer gleich sein.
Eines Tages, es war ein Donnerstag, klingelte es morgens kurz vor Sieben bei Günther. Normalerweise konnte er vom Küchentisch, wo er die meiste Zeit des Tages zubrachte, gut sehen, wer den langen Weg von der Straße, an der Garage und Leos Wohnei vorbei den Weg zu seiner „Villa“ nahm. Aber an diesem Morgen war er gerade mit seiner Kanne Kaffee beschäftigt und so überraschte ihn das Klingeln.
Günther wischte sich die Hände an seiner Schlafanzughose ab und öffnete die Tür.
Vor ihm stand eine etwas füllige Frau, etwa Mitte bis Ende dreißig, in einem langen grauen Wollmantel, die ihm ein städtisches Schreiben unter die Nase hielt: „Ich bin die ehrenamtliche Familienhelferin vom kirchlich-kommunalen Wohlfahrtsverbund, mein Name ist Birnbaumer-Nüsselschweif, ich komme jetzt jeden Morgen. Um es gleich vorweg zu sagen, ich wasche nicht, ich putze nicht, ich koche nicht und ich bin nicht Ihre Haushaltshilfe und Putzfrau. Meine Aufgabe ist es, Sie bei der Erziehung und Betreuung Ihrer Kinder zu unterstützen und dem Amt zu berichten. Wo sind sie denn die lieben kleinen Kinderlein? Huhuuu! Kuckuck! Wo seid ihr denn!“
Und während sie „Kuckuck“ krähend einfach an Günther vorbei marschierte, fing Thomas in seinem Bett an zu weinen, er hatte Angst, sonst wurde er immer von seinem Papa in der immer gleichen Weise geweckt und nicht durch das laute Kuckuck-Rufen einer wildfremden Frau.
(Fortsetzung folgt)
Ich habe noch einmal die wichtigsten Schlagwörter (Hashtags) dieses Artikels für Sie zusammengestellt, damit Sie sich besser orientieren können:
Keine Schlagwörter vorhanden
Was jetzt, ganze Geschichte oder Fortsetzung folgt? 🙂
Die ganze *bisherige* Geschichte.
Och die Rüsseltante… ich glaub die ist der schrecklichste Punkt an der ganzen Geschichte.
Betrug! Etikettenschwindel! Verhohnepiepelung!
Mir, uns wurde eine komplette Geschichte versprochen! Und stattdessen werden alte Wunden wieder aufgerissen, man liest sich wieder ein nur um beim gleichen Cliffhanger wie vorher zu landen!
Das ist Sadismus! Tierquälerei, mutwillige!
Mögen Dir Salzkristalle an allen kitzeligen Stellen des Körpers wachsen und Du dann gefesselt in den Käfig einer tausendköpfigen Ziege gestossen werden!
🙁
Nein, nicht doch, schon wieder der Rüsseltierfant.
Na die Rüsselkuh hat dem armen Günther ja grad noch gefehlt zu seinem Glück…
„Schwersterndienstwerk“ 😉
Und da höhrts wieder an der gleichen Stelle auf.
Tom du willst uns doch bestimmt quälen.
Die Birnbaumer-Nüsselschweif würde man doch gerne mal in die Finger bekommen…….
ich will ja keinem den Spaß verderben, aber habe ich jetzt ein déjà-vu?
oder liegt’s doch am Alter?
Sowohl als auch.
Hihi.
Genau ich denke auch es liegt an beidem. Ich habe jeden Morgen beim Blick in den Spiegel ein alters déjà-vu. 😉
Wenn meine Frau zu mir sagt mein junger, schöner Mann schwör ich jedes mal aufs Neue: Die wird von mir nie eine Brille bekommen und ich versuche weiterhin zu verheimlichen das ich auf Reserve laufe. 😉
Man(n) das Alter kann einen aber auch fertig machen. Wie gut, dass keiner weiß, wann das eigene Verfallsdatum wirklich abläuft.
Amen.
Wie war das in der Sage mit den Zyklopen die in die Zukunft sehen wollten? Sie sehen nur ihren eigenen Tod. (Wer sich besser auskennt möge dies bitte weiter beschreiben, ich bin müde.)
Und das Rüsseltier hat sowohl die Frau erschlagen wie auch den haarigen Typen in die Flucht getrieben, weil sie niemand leiden kann, der schöner aussieht als sie höchstpersönlichst selbst?
Ich habe mir bisher nicht vorstellen können, dass die Birnbaumer-Nüsselschweif auch mal Ende dreissig gewesen ist. In meiner Fantasie existierte von ihr bisher nur die Version „alte Schachtel“. Ich bräuchte wohl eine Phantombildsoftware, um eine jüngere Ausgabe zu generieren…
Genau, mein Gruselbild von der ollen Schrippe ist auch gerade explodiert. Ich hatte auch eine alte, geifernde Kreatur vorm Auge. Hoffentlich suche ich jetzt nicht in allen jüngeren Modellen einen Teil von der Rüsselsau. 😉
Juchhu, das Rüsselschwein ist auch wieder mit von der Partie 😀
Hey, die Geschichte geht weiter, der Arbeitstag ist gerettet 😛