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Günther -XXI-

Das Erste was Günther tat, war ein Anruf beim Hilfswerk, um nach dem Verbleib seines Sohnes zu fragen. Die Auskunft, die er dort bekam, war wenig erfreulich. Das Jugendamt der Stadt hatte den Jungen abgeholt und in ein Heim für behinderte Kinder und Jugendliche gebracht.

„Das können die doch nicht machen, das Gericht hat doch gesagt, daß die Kinder bei mir gut aufgehoben sind“, schluchzte Günther, als er wieder an seinem Küchentisch saß. Horst tröstete ihn mit Allgemeinplätzen wie, daß nichts so heiß gegessen wird, wie es gekocht werde und daß sich ganz bestimmt alles nur als Mißverständnis herausstellen werde. In Wirklichkeit glaubte Horst aber nicht daran. Denn mit einem Federstrich hatte man Günther quasi als Obdachlosen abgestempelt, der in einer Bruchbude haust, die demnächst abgerissen werden soll.
So einem Mann gibt man keine Kinder, die ja dann aus Sicht der Behörden ebenfalls obdachlos wären.

„Wir müssen jetzt endlich was unternehmen“, schlug er vor und versuchte zum wiederholten Mal, die alte Frau Semmelbrot zu erreichen. Endlich ging am anderen Ende jemand an den Apparat und Horst schilderte, was ihnen von den städtischen Beamten mitgeteilt worden war.

„Ach du meine Güte!“ jammerte Frau Semmelbrot: „Ich bin ja entsetzt! Der Herr Salzner wohnt da? Meine Güte, um Himmels Willen, ach Gott, ach nein, das habe ich doch nicht gewußt! Er hat die Laube doch als Gartenhäuschen gepachtet und als vor ein paar Monaten das erste Schreiben von der Stadtverwaltung kam, habe ich gedacht, das sei vor Ort alles geklärt und die Gärten seien alle verlegt worden. Kriegen denn nicht Kleingärtner immer ein Ersatzgrundstück? Also ich habe das unterschrieben, weil ich die paar Euro für den Grund und Boden besser gebrauchen kann, als ein Grundstück, das hunderte von Kilometern entfernt liegt. Das tut mir jetzt aber sehr, sehr leid für den Herrn Salzner, sagen Sie ihm das bitte und grüßen Sie ihn ganz lieb von mir.“

„Die kann sich ihre Grüße sonstwo hin stecken“, schluchzte Günther, dem das alles zuviel geworden war. Wie viel kann ein Mensch ertragen? Horst wußte, daß sein Freund lange kämpfen konnte, aber irgendwann würde auch seine Kraft nicht mehr ausreichen und dann würde das passieren, wovor sich Horst am meisten fürchtete, sein Freund würde dann seinen Kopf in den Sand stecken und resignieren. Das mußte unbedingt verhindert werden.

Zur gleichen Zeit ließ sich Frau Birnbaumer-Nüsselschweif in Begleitung ihres Mannes und der beiden Mädchen auf dem örtlichen Handharmonika-Konzert blicken. In der ersten Reihe sitzend, genoß sie die Blicke der neugierigen Leute, denen sie zum ersten Mal ihr Familienglück präsentieren konnte.
Ach, was kümmere ich mich doch so aufopfernd um diese armen Kindlein, hoffentlich sehen das alle.

Horst hatte es erreicht, daß Günther und er am übernächsten Tag einen Termin beim Sozialamt hatten. Eine so genannte Quartierbetreuerin nahm sich Günthers Sache an. Die Stadt war vor Jahren in acht oder neun Teile, die Quartiere, aufgeteilt worden und für jedes dieser Quartiere gab es einen Sozialarbeiter bzw. eine Sozialarbeiterin, die dem Sozialamt unterstellt waren und die sich um die Problemfamilien kümmern sollten. Frau Schlick empfing die beiden Männer sehr freundlich, nahm sich reichlich Zeit Günthers Ausführungen zu lauschen, die Horst immer wieder ergänzen mußte, denn wie bereits gesagt, Günther neigte dazu, zu stammeln, sinnfreie Versatzstücke in seine Sätze einzubauen und sich etwas umständlich auszudrücken.

So gehe das ja nun gar nicht und da müsse man ja sofort etwas unternehmen und das sei ja alles ganz besonders merkwürdig und sie wolle sich auf jeden Fall für Günther einsetzen, sagte die Quartiersbetreuerin und begann dann aus einem Plastikkasten mit vielen Schubladen rund ein Dutzend hübsch bunter Formulare zusammen zu suchen: „Füllen Sie das alles aus, bringen Sie mir die entsprechenden Belege und Bescheide, Kontoauszüge, Renten- und Verdienstbescheinigungen, Urteile und Unterlagen mit und kommen Sie am Montag um Elf wieder her.“

„Und was ist jetzt mit den Kindern?“ wollte Günther wissen.

„Nun, da sind mir zunächst die Hände gebunden. Nach meiner ersten Einschätzung ist es ja so, daß die Mädchen in guter Obhut sind und Ihr Sohn Thomas sich ja in fachlicher Betreuung befindet. Da wird man jetzt auf die Schnelle gar nichts machen können. Ich kann und darf Ihnen auch gar nicht sagen, wo sich Thomas derzeit aufhält. Das Kindeswohl geht ja immer vor.“

Da war es wieder, dieses Zauberwort ‚Kindeswohl‘, das Wort mit dem man alles durfte. Günther wollte aufspringen, doch Horst hielt ihn zurück und dann sagte auch Frau Schlick das was Horst schon einige Tage vorher zu Günther gesagt hatte: „Da braucht man Geduld, es wird nichts so heiß gegessen, wie es gekocht wird.“

Zwei Tage durchforstete Horst Günthers Wohnzimmerschrank, in dem sich auch alle Dokumente befanden. Allerdings waren die nicht sauber in Ordnern abgeheftet, sondern lagen stapelweise in alten Pappkartons. An die hundert nicht geöffnete Briefe fand er, stapelweise Kassenbons von Supermärkten und Gebrauchsanweisungen von Geräten, die Günther längst nicht mehr besaß. Dazwischen Lohnbescheinigungen, alte Lohnsteuerkarten und wahrscheinlich sämtliche Telefonrechnungen seit 1970, alles durchmischt mit Reklame von Faber-Lotto und Blumen-Bakker.
In diesem Sammelsurium fand Horst nur einen Teil der benötigten Unterlagen und erfuhr dann von Günther, daß dieser mal ‚aufgeräumt habe‘ und die unwichtigen Sachen zum Ofenanzünden verwendet habe.

Mit Mühe und Not brachte Horst es fertig, den Wust an Formularen auszufüllen, hatte jedoch nur einen Bruchteil der geforderten Belege gefunden. Am Freitagmorgen packte er alles zusammen in eine Mappe und sagte: „Mehr haben wir nicht. Alles soweit ausgefüllt, die vorhandenen Belege dabei, jetzt können wir am Montag mal gucken, ob das der Tante da reicht. Zaubern kann ich auch nicht.“

Während er das sagte, kam Leo herein, legte die Zeitung auf den Tisch und nahm sich seinen allmorgendlichen Kaffee und ging wieder. Leo hatte seine eigenen Sorgen. Wo sollte er hin, wenn Günther das Grundstück verlor?

Günther nahm sich die Zeitung, breitete sie auf dem Küchentisch als Unterlage aus, um sich mit einer kleinen Stopfmaschine ein paar Zigaretten zu fabrizieren. Auf einmal wischte er die Tabakkrümel zur Seite und starrte auf die Zeitung.
Horst sah, daß sein Freund ganz blaß geworden war. Vorne auf der Regionalseite befand sich ein Bericht vom Handharmonikakonzert und einem Bild von Frau Birnbaumer-Nüsselschweif, ihrem Mann und Günthers Töchtern.

„Ich mach die alle. Ich mach die fette Qualle tot!“ brüllte Günther und fegte alles vor ihm Liegende vom Tisch.


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Geschichten

Die Geschichten von Peter Wilhelm sind Erzählungen und Kurzgeschichten aus dem Berufsleben eines Bestatters und den Erlebnissen eines Ehemannes und Vaters.

Die Geschichten haben meist einen wahren Kern, viele sind erzählerisch aufbereitete Tatsachenerzählungen.

Die Namen, Geschlechter und Berufe der erwähnten Personen sind stets verändert.

Lesezeit ca.: 8 Minuten | Tippfehler melden | © Revision: 1. Februar 2013 | Peter Wilhelm 1. Februar 2013

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Winnie
11 Jahre zuvor

Bei der Nüsselsau könnte man ja mal eine Ausnahme machen und ne gepflegte Steinigung durchführen. Nur so der Form halber, es muss ja alles seine Ordnung haben.
Dann kann sie ja Stein und Bein drauf schwören alles zum Wohle der Kinder gemacht zu haben. Jawoll, steinigen. 😉

11 Jahre zuvor

Nein Winnie, nicht mal bei der Frau Birnbacher-Faselschweif.

Irgenwie habe ich nicht das Gefühl, dass diese Geschichte ein Happy-End hat.

Winnie
Reply to  Konni Scheller
11 Jahre zuvor

Hat sie auch mit Sicherheit nicht, sehe ich auch so. Wenn die Nüsselwurst nur einen Steinwurf weit entfernt ist, kann es kein gutes Ende nehmen. 😉

Uli-mit-Hut
11 Jahre zuvor

Wo sind ordentliche, ehrliche und streitbare Anwälte, die auch mal einfach ohne Geld helfen – wenn man sie braucht …

… aber die Geschichte ist wohl keine Märchen … oder? Hört sich sehr real an – leider!

Reply to  Uli-mit-Hut
11 Jahre zuvor

Nein, sie ist real.

Rena
11 Jahre zuvor

Ich denke wie Uli-mit-Hut: es wird genügend Familien in Deutschland geben, denen es ähnlich geht. Und auch genügend Familien, in denen Kinder unter den „Umständen“ leiden, ohne dass eingegriffen wird.

11 Jahre zuvor

MEEEEEEEEEEEEEEEEEEEEEEEEEEEEEEEHR! Schnell, ich will MEEEEEEEEEEEEEEEHR!!! Jetzt und so 😉

MsTaxi
11 Jahre zuvor

Da muss ich mal, etwas abgewandelt, Erich Kaestner zitieren: „Hat denn nicht gerade mal ein Riese eine Hand frei,um ihr den Hosenboden stramm zu ziehen?“

Hoffentlich geht es doch noch irgendwie gut aus, auch wenn ich in der Sozialarbeiterin keine Zauberfee vermute.

Astrid
11 Jahre zuvor

Bei Spiegel TV online ist ne Geschichte zu sehen wie eine Frau die Jahrelang gegen den krebs kämpft die Kinder weggenommen bekommen hat, weil sie alleine nicht mehr perfekt sichum alles kümmern kann, anstatt ihr eine Haushaltshilfe zur Verfügung zu stellen (sowas zahlen die krankenkassen oder so glaube ich in so einem Fall ja).

Ich musste da etwas an die Günther Geschichte denken, weil bei ihr auch so ne nette „Familienhilfe“ war die zu nix gut war, darum dachte ich, ich füge das mal ein. http://www.spiegel.tv/filme/krebskranke-mutter-jugendamt/

as
11 Jahre zuvor

Ruft Rechtsanwalt Rixe aus Bielefeld an. Der kann hexen und zaubern. Kopf hoch…das wird! Verbessere die Umstände und dann kämpfe hart, aber ohne Gewalt.




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