Geschichten

In der Psychiatrie III

Martin hat sich selbst getötet. Die Nachmittagsgruppe versammelte sich an diesem Tag um 15 Uhr, jeder achtete darauf, ja nicht zu spät zu kommen, denn Verspätungen wurden vom Therapeuten gerne als Therapieverweigerung gewertet und das könnte für den einen oder anderen bedeuten, daß er länger als geplant in der Einrichtung verbleiben muß.
Für Martin spielte das keine so große Rolle, denn er war fest für genau 4 Wochen eingewiesen worden und unterlag keinerlei Beschränkungen hinsichtlich seiner Bewegungsfreiheit. Das bedeutet: Er konnte sich auf dem gesamten Gelände der Anstalt frei bewegen und hätte es auch verlassen können.

Als Martin um 15.15 Uhr immer noch nicht aufgetaucht war, fragte man seinen Zimmergenossen nach dessen Verbleib und es hieß nur: „Der wollte nachkommen, er hatte noch irgendwas zu erledigen.“

Zehn Minuten später fand man Martin dann, er hatte zwei Krawatten zusammengebunden und sich damit an einem in Deckennähe befindlichen Absperrhahn im Badezimmer aufgehängt.

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Er konnte noch nicht lange gehangen haben, sonst wären die ganzen Wiederbelebungsversuche die man angestellt hat, völlig überflüssig gewesen. Aber letztenendes führten sie nicht zum erhofften Erfolg.

Als wir nach Bullerbeck fuhren, da rechnete ich mit einem alten Säufer oder einem schwer dementen Opa und war wie vor den Kopf geschlagen, als ich auf der Trage meinen guten Bekannten Martin erkannte. Ich hatte gar nicht in die Papiere geschaut, wußte nicht was mich erwartete und hatte auch keine Ahnung wie der Auftrag lautete und wer der Auftraggeber war.
So etwas passiert mir gewiss nie wieder!

Jetzt hieß es erst einmal Informationen einholen, die Sachlage sondieren und die Fakten sortieren. Damit begann ich schon während der Rückfahrt, telefonierte mit dem Handy und hatte dann noch den halben Tag im Büro weitere Telefonate zu führen, bis ich endlich klar sah.

Folgende Geschichte kam dabei heraus und ich muß gleich dazu sagen, daß es die nach meiner Meinung wahrscheinlichste Version ist, sozusagen eine Essenz aus allen Versionen die ich gehört habe.

Also nee, ich fang doch anders an, hören wir uns zunächst Susannes Version an. Diese Version ist nämlich die, die im ganzen Stadtteil herumgeht und die dank Susanne überall verbreitet wird:

An dem Samstagabend vor Martins Einweisung habe Martin zu Hause randaliert. Schon seit Mai habe er gewußt, daß er Mitte August seine Arbeitsstelle verlieren würde und deshalb habe er mit dem Trinken angefangen. Jeden Tag habe er schon morgens den ersten Flachmann an der Tankstelle getrunken und so den ganzen Tag weitergemacht, bis er dann abends völlig betrunken seine Frau und seine Stieftochter wund und blau geprügelt habe.

„Das ist ja schon seit Jahren so gegangen, man glaubt ja gar nicht was ich durchgemacht habe. Wenn ich schon am Boden gelegen habe, hat er immer noch weiter auf mich eingeprügelt und mich getreten und bespuckt“, klagt Susanne ihren Mann an und das allgemeine Entsetzen ist groß.

Ein wahrer Tyrann sei Martin gewesen, habe nur nach außen hin den Unbedarften und Braven gespielt und in Wirklichkeit sei er daheim ein Ekelpaket erster Güte gewesen, der seine Stieftochter sogar die Kellertreppe hinuntergestoßen habe und seine Frau unter der Dusche mit einem Ledergürtel durchgeprügelt haben soll.

Völlig verzweifelt sei sie gewesen, jammert Susanne und schluchzt, sie habe Martin doch so geliebt und nicht die Kraft gehabt, sich von ihm zu trennen, weil sie immer die Hoffnung gehabt habe, das bessere sich eines Tages wieder.
Ich sitze da, sperre wie ein Karpfen beim unfreiwilligen Landgang das Maul auf, kann nicht glauben was ich da höre und sehe vor meinem geistigen Auge Martin wie er sonntags in der Kirche das Evangelienbuch zum Altar trägt, die Kollekte einsammelt und anschließend an die Messe noch anderthalb Stunden die Kinderbuchecke in der Pfarrbibliothek betreut. Martin konnte keiner Fliege was zuleide tun und das ist kein Spruch, sondern die schlichte Beschreibung der erlebten Wirklichkeit. Ich sehe ihn noch vor mir, wie er ein in sein Bier gefallenes Insekt mühsam mit einem Streifen Papier rettet, vorsichtig trockenpustet und dann auf einem Blatt draußen absetzt. Martin war jemand, der einem Bettler seine letzten drei Euro Hartgeld in den Hut warf und dann zu Hause Gewissensbisse bekam, weil das so wenig war. Er nahm dann Geld und fuhr nochmals zurück, um dem Bettler nochmal was zu geben.

Passt das denn alles zusammen?

Ja aber sicher! An dem bewußten Abend sei Martin dann so betrunken gewesen und so ausgerastet, daß er sogar den neuen Fernsehapparat zertrümmert habe. Ronja habe sich in ihrem Zimmer eingeschlossen und Susanne sei vor Martin im ganzen Haus auf der Flucht gewesen. Schließlich sei es ihr gelungen, den Hausarzt anzurufen, der dann schnell gekommen sei. Er habe Martin dann beruhigen können und auf Susannes Bitte, nachdem Martin eine Spritze bekommen hatte, habe der Doktor dann die Einweisung nach Bullerbeck veranlasst.

Ich sitze immer noch da, sperre immer noch den Mund auf und kann einfach nicht glauben, daß das alles so gewesen sein soll.

Doch, doch, das sei doch alles nur Fassade. Martin sei in Wirklichkeit ein brutaler und herzloser Mensch. Der ganze Kirchenkram sei doch nur um sein schlechtes Gewissen zu beruhigen und das sei doch alles nur Schau gewesen, schimpft Susanne mit mir, als sie meinen zweifelnden Gesichtsausdruck bemerkt: „Jetzt wird mir sowieso keiner glauben, ich merke schon, daß ich jetzt überall als Lügnerin da stehe, dabei bin ich das Opfer und Martin ist der Übeltäter!“

„Naja, vor allem ist er ja jetzt mal tot“, gebe ich zu bedenken und Susanne richtet sich kerzengerade auf ihrem Stuhl auf und meint schnippisch: „Wir werden ihm jedenfalls keine Träne nachweinen.“

Harte Worte!

Susanne ist überhaupt nur zu mir gekommen, weil ich so nachgebohrt hatte. Nachdem die Klinik Bullerbeck Martins Mutter verständigt hatte, daß ihr Sohn gestorben ist, hat die Frau einen Nervenzusammenbruch erlitten und wieder mußte der Hausarzt anrücken. Als die alte Frau Berg sich dann Stunden später wieder beruhigt hatte, war ihr erster Anruf der bei uns. Diskret und schnell soll alles über die Bühne gehen, ohne viel Aufsehen.
Dann allerdings hatte Bestatter Ehfmann aus Bullerbeck sich bei der alten Dame gemeldet und sie in völlige Verwirrung gestürzt. „Ja was denn nun, ich hatte doch einen Bestatter hier beauftragt!“, hatte sie gesagt.
Doch Ehfmann wollte sich den Auftrag nicht entgehen lassen: „Das können wir auch alles machen, wir haben Ihren Sohn jetzt von hier aus zur Pathologie gebracht und holen ihn morgen da auch wieder ab. Da könnten wir doch eigentlich auch die ganze Bestattung machen.“

Frau Berg war schon fast so weit, ihm zuzustimmen, da sagte Ehfmann: „Sie müssen nur bei uns vorbeikommen und den Sarg aussuchen“ und genau das war der falsche Satz, denn wenn Frau Berg eins nicht wollte, dann war das die weite Fahrt nach Bullerbeck auf sich zu nehmen. „Nein, das macht jetzt unser Bestatter hier.“

Kein Wunder daß Ehfmann uns gegenüber so schnoddrig war.

Als ich wieder im Büro war, hatte ich zu allererst versucht, Frau Berg zu erreichen, die war aber nicht zu Hause. Dann rief ich bei Susanne an, die zunächst ziemlich kurz angebunden war, mir dann aber erklärte, sie sei deshalb so böse, weil sich die Schwiegermutter in die Bestattung eingemischt habe. „Aber gut, wenn es dann so beschlossen ist, dann soll die das eben machen, aber dann soll sie das auch mal schön alles bezahlen.“

Was denn eigentlich passiert sei, wollte ich wissen und das war der Auslöser dafür, daß sich Susanne sofort in ihr Auto gesetzt hatte und zu mir ins Büro gekommen war. Sie wollte auf keinen Fall die Chance verpassen, mir ihre Version haarklein zu erzählen.

Ich kenne Martin doch! Ich habe tagtäglich mit so vielen Menschen zu tun, habe schon so viel und so viele erlebt, kann ich mich denn ausgerechnet in Martin so getäuscht haben?

Susanne sagt: „Ich habe Martin gesagt, daß unsere Ehe beendet ist. Einen arbeitslosen Säufer will ich nicht. Wir haben schon so schlimme Zeiten gemeinsam durchgestanden, aber wenn der das Saufen anfängt und mich und Ronja verprügelt, dann muß ich dem ein Ende machen. ‚Unsere Ehe ist beendet, ein für allemal‘, habe ich ihm gesagt und angefangen, sein Bett im Schlafzimmer abzubauen und da ist er dann ausgerastet.“

Ein Handyanruf unterbricht uns, Susanne kramt in ihrer Handtasche nach dem bimmelnden Teil, lächelt kurz entschuldigend als sie es gefunden hat und geht zum Telefonieren kurz hinaus.
Ich nutze die Zeit, gehe schnell nach oben und erzähle meiner Frau in kurzen Worten was passiert ist.
Die setzt sich hin, macht ebenfalls den Karpfen und dann kullern dicke Tränen. Ich setze mich zu ihr, wir sitzen da, Wange an Wange und unsere Tränen mischen sich. Da ist doch Martin unser Freund!
Auf einmal geht ein Ruck durch meine Frau, ich löse mich von ihr und während sie energisch die Tränen wegwischt, tippt sie sich mit dem Finger an die Stirn: „Die hat doch ’nen Vogel! Martin doch nicht! Das gibt es doch alles gar nicht!“

„Was soll ich sagen, so hat sie es mir erzählt.“

„Ach, das kann doch alles so nicht stimmen“, beharrt meine Frau und ich bin sehr geneigt, ihr zuzustimmen.

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(©si)