Menschen

Rotkariert

Herr Wackernagel ist Betreuer und hat uns angerufen, weil einer seiner Schützlinge verstorben ist. Ich fahre spätabends in die Wohnung des Verstorbenen, um mich dort mit Herrn Wackernagel zu treffen und alles Notwendige wegen der Beerdigung zu besprechen. Unsere Fahrer haben den Verstorbenen, einen gewissen August Zimmermann längst abgeholt, der 82jährige war an diesem Tag einfach nicht mehr wachgeworden.

„Setzen Sie sich irgendwo hin, ich muß noch ein paar Unterlagen suchen“, ruft mir Herr Wackernagel aus dem Schlafzimmer zu und meint dann noch: „Oder nehmen Sie sich einen Kaffee aus der Küche, den hab ich frisch gemacht.“

Er habe die Betreuung noch nicht so lange übernommen und deshalb fehlen noch Unterlagen, die er erst suchen müsse. „Die Betreuung endet ja mit dem Tod, aber ich mach das noch mit der Beerdigung, es gibt ja sonst keinen, der war ganz alleine, sonst macht das ja keiner. Am Ende bekäm‘ der noch das Armenbegräbnis und das hat er nicht verdient, irgendwo muß doch diese verflixte Police von der Sterbekasse sein…“

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In der Küche steht eine Pfanne, halbvoll mit kalten Bratkartoffeln, auf dem Tisch und daneben liegt eine Gabel, der alte Zimmermann scheint beim Geschirr sparsam gewesen zu sein und hatte wohl direkt aus der Pfanne gegessen. Im Schrank finde ich eine Tasse, spüle sie aus, es riecht etwas modrig aus dem Schrank, da fehlt die pflegende Hand der fleissig wirkenden Hausfrau. Der Kaffee ist heiß und stark, ich verbrenne mir fast die Lippen.

Mit der Tasse in der Hand gehe ich ins Wohnzimmer zurück, wo ich bereits meinen Koffer abgestellt habe und gehe ein wenig herum. Es ist ein Wohnzimmer, wie ich es schon tausend Mal gesehen habe. Möbel, die vor 20 Jahren modern waren, Eiche altdeutsch, die Teppiche abgelaufen, Tapeten mit Mustern aus dem Poesiealbum und alles atmet Einsamkeit. Nur ein Sessel wurde immer wieder benutzt, ihn polstern zwei Kissen auf der Sitzfläche und am Rücken, eine rotkarierte Decke liegt, auf kalte Füße wartend, auf einem Schemel davor. Sie wird lange warten können und vermutlich niemals wieder jemandes Füße wärmen und der, dessen Füße jetzt kalt sind, der braucht keine Decke mehr.

Auf dem Tisch liegt eine Fernsehzeitung, Herr Zimmermann scheint ein Fan von Christine Neugebauer gewesen zu sein, gleich zwei Sendungen mit ihr hat er sich mit dem gelben Kuli eines Autohauses angestrichen. WINDHUND, acht Buchstaben, senkrecht, hat Herr Zimmermann nicht gewusst, ich schreibe es ins Heft, das Rätsel ist vollständig… wußte er dieses Wort nicht oder ist es ihm schon nicht mehr gut gegangen? Man wird es nicht erfahren.
Die wenigen Bilder an der Wand haben längst ihre Farben verloren, sind allesamt etwas gelbstichig und zeigen ein Ehepaar mit großen Brillen, wie sie vor über dreißig Jahren mal modern gewesen sind. An einem Bild klemmt ein Totenbildchen, ich klappe es auf, die Frau ist schon vor 20 Jahren gestorben, Abschied nahm nur „Dein Dich immer liebender Mann August“. Für wen hat er die Bildchen wohl drucken lassen?

Herr Wackernagel kommt ins Wohnzimmer, ein netter Mittvierziger, schüttelt mir freundlich die Hand: „Sie haben sich Kaffee genommen? Prima! Hier haben Sie schon mal zwei Ordner, gucken Sie die doch mal durch, ich such noch weiter, irgendwo muß die Police von der Sterbekasse sein. Wenn wir die haben, dann können Sie den alten Zimmermann schön beerdigen, sonst machen die das auf dem Amt wieder so, daß die dem ein anonymes Sozialbegräbnis verpassen und die Police erst hinterher einlösen. Dann ist alles zu spät und die nehmen das Geld, wenn’s gut geht, für die Wohnungsauflösung und wenn was übrig ist, Sie kennen das ja bestimmt, dann fällt es an den Staat. Nee, das hätte der nicht verdient…“

Die Ordner enthalten Dokumente, einen Gesellenbrief, der ausweist, daß Herr Zimmermann bei Huber und Söhne das Handwerk des Polsterers gelernt hat, einen Kaufvertrag aus den 50ern über ein Moped und Dutzende von alten Telefonrechnungen, warum heben die das auf? Hinten steckt in einer Plastikhülle eine Urkunde, für 40 Jahre Arbeit in einer Möbelfabrik, wir wünschen ihm alles Gute.

Was bleibt von so einem Leben? Wer wird sich an August Zimmermann erinnern?
„Da gibt’s niemanden“, unterbricht der Betreuer meine Gedanken, „die sind alle schon gestorben, am Ende ist man ganz allein.“ Dabei winkt er mit der Police und wir können uns an den Wohnzimmertisch mit der gekachelten Tischplatte setzen und die Bestattung besprechen. Feuer, Urne, kleines Grab mit Platte, es gibt ja niemanden, der danach schauen könnte. Dafür reicht die kleine Sterbegeldversicherung. „Das nehm‘ ich auf meine Kappe“, sagt Wackernagel, setzt schwungvoll seine Unterschrift unter unseren Auftrag und dann trinken wir noch eine Tasse Kaffee zusammen, er erzählt mir von seiner Arbeit als Betreuer, ich ihm von meiner als Bestatter, dann gehen wir.

„Der Letzte macht das Licht aus!“ sagt Wackernagel seufzend und dreht am altmodischen Lichtschalter, es klackt, das Licht ist aus. Morgen oder übermorgen werden rauhe Gesellen kommen und den ganzen Plunder holen, Plunder der nur dadurch zum Plunder geworden ist, weil der der ihn als sein Hab und Gut bezeichnete, nicht mehr da ist.

„Was haben Sie denn da?“ will Wackernagel auf der Treppe von mir wissen. Ich schüttele nur den Kopf und sage: „Ach nichts“ und drücke die rotkarierte Decke und das eine Bild von der Wand an meine Brust.
Das Bild hänge ich irgendwo bei uns in der Firma auf und wenn jemand fragen sollte, wer das da auf dem Bild ist, dann werde ich sagen: „Das ist August Zimmermann mit seiner Frau, der war 40 Jahre in der Möbelfabrik.“ Dann wird er wenigstens nicht ganz vergessen…

Und die rotkarierte Decke? Na, soll die Decke doch den alten August noch einmal wärmen und begleiten.

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(©si)