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Die Standuhr

standuhr

Als ich noch ein kleiner Junge war, wurde ich eines Tages zum Pastor gerufen.
Das war in einer Zeit, als man im Allgemeinen noch Respekt voreinander hatte und vor Pastören im Besonderen.
Für uns war es selbstverständlich, daß wir den Herrn Pastor immer grüßten und die besten Karten hatte man, wenn man von seiner Straßenseite auf die Seite wechselte, auf der der Pastor ging, um artig seinen Diener oder Knicks zu machen und dem frommen Mann die Hand zu geben.

Das war schon deshalb klug, weil dieser Pastor auch der Religionslehrer war und dermaßen gutes Betragen durchaus mit einer hübschen Schulnote belohnen konnte.

Aber man war nicht nur deshalb respektvoll und höflich, das war früher einfach so. Da war auch der Briefträger im Range eines Postschaffners noch eine Amtsperson und Polizisten waren nicht als blau-silberne Bürgerfeinde verschrien, sondern Freund und Helfer und Respektsperson in einem.

Zum Pastor gerufen zu werden, das war schon etwas Besonderes. Konnte es doch etwas ganz Schlimmes bedeuten oder aber auch etwas ganz Gutes.
Man wußte es aber eben leider nicht und so trat man einen solchen Weg eher mit etwas wackeligen Knien an, ein schlechtes Gewissen hatte man als typischer Ruhrpottlausbub ja sowieso immer.
Ich beispielsweise war mir meiner Schuld durchaus bewußt, hatte ich doch just in der Woche zuvor der Bärbel unter den Rock geguckt und der Ingrid an ihren geflochtenen Zöpfen herumgezogen.
Außerdem hatte ich von einer Keilerei mit Klaus vom Eck noch eine deutlich sichtbare Schramme auf der Stirn.

Gut, ich gebe zu, ich war eher ein Stubenhocker, eine Leseratte und im Grunde mir selbst genug. Derjenige, der ständig auf Bäumen herumkletterte und geheimnisvolle Banden tobender Kinder anführte, der war ich sicher nicht.
Aber die Kriegsmütter waren der Meinung, daß ein Kind, das nicht jeden Tag mindestens 96 Stunden an der frischen Luft war, quasi sofort tot umfallen müsse, und so trieb mich meine Mutter immer nach draußen, wo ich dann eben doch auch schon mal auf einen Baum geklettert bin und auch schon mal eine aus mindestens einem Kind bestehende Bande anführte.

Allerdings gingen meine Interessen doch mehr in die Upskirt- und Zopfzieh-Richtung, ohne daß ich auch nur im Geringsten irgendwelche erotischen Phantasien damit verbunden hätte. Es mag ja heute lächerlich klingen, aber damals glaubten wir zwar auch nicht mehr an den Klapperstorch, aber so ganz genau hatte keins von uns Kindern eine Ahnung davon, wie Babys gemacht und auf die Welt gebracht wurden. Das hat uns aber auch nicht weiter gestört, es gab sowieso genug Kinder in unseren Jahrgängen.

Das Haus meiner Eltern stand nur zwei Häuser vom Pfarrhaus entfernt.
Es gab überhaupt nur auf dieser einen Straßenseite Häuser, denn gegenüber stand die altehrwürdige Kirche.
An der Ecke war das Seifengeschäft, dann kam das Haus in dem der alte Schneider und eine Verkäuferin aus einem Damenoberbekleidungsgeschäft wohnten, das nächste Haus war unser Haus und dann kam der Gemeindesaal und danach das Pfarrhaus.
Am Ende der Straße befand sich der alte Friedhof; und ich glaube, daß wenn man als Kind immer auf einem Friedhof zwischen Grabsteinen spielt, dann muß man irgendwann zwangsläufig Tom der Undertaker werden…

Das is‘ was dran! Die Ingrid mit den Zöpfen hat später einen Bestatter geheiratet und die Bärbel ist Altenpflegerin geworden!

Nun also mußte ich zum Pastor. Was konnte der bloß wollen?

Mit etwas unguten Gefühlen machte ich mich auf den Weg, die Haare gekämmt, die Schuhe geputzt und die Mutter hatte noch kontrolliert, ob die Fingernägel auch sauber waren.
Je näher ich dem großen Backsteinhaus kam, umso langsamer und zögerlicher wurden meine Schritte.

Was, wenn der doch von der Unter-den-Rock-Guckerei wußte?

Die Frau vom Pfarramt öffnete die Tür, ich sagte brav meinen Namen, machte einen Diener und hielt ihr die Hand hin.
Sie ignorierte die Hand und wies mit hochgerecktem Kinn, was eine Kunst ist, wenn man so gut wie keinen Hals hat, in das Innere des Hauses.

Die Klinken der großen Türen befanden sich in meiner Augenhöhe und ich durfte in das Treppenhaus, die Halle, eintreten.
Dort empfing mich die Haushälterin des Pastors, eine dicke alte Dame mit krummen Beinen und wackeligem Schritt. Sie war wenigstens freundlich und bedeutete mir, mich auf eine Bank an der Wand zu setzen, es dauere noch etwas.

Sie verschwand hinter einer der vielen Türen und so saß ich da mutterseelenallein und atmete den fremden Duft dieses Hauses, Holz, Bohnerwachs und Zigarrenrauch.

Ich war ohnehin schon nervös, doch das Knacken des hölzernen Treppenhauses und das Knarzen der alten Dielenböden trugen nicht gerade dazu bei, daß ich mich hätte entspannen können.
Hinzu kam ein gleichmäßiges und langsames Ticken.
Irgendwo hing wohl eine große Uhr.

Zu gerne hätte ich die Uhr mal gesehen, doch ich wagte es nicht, aufzustehen und deshalb rutschte ich auf der Bank ganz nach rechts und tatsächlich, da konnte ich einen Blick auf den nächsten Treppenabsatz werfen, wo eine große Standuhr vor sich hin tickte.
Allerdings konnte ich nur das untere Ende der Uhr sehen und um sie ganz anschauen zu können, beugte ich mich weit über die Bank hinaus und reckte mich.
Und genau als ich beinahe nur noch mit den Zehenspitzen die Bank berührte, sprang der große Zeiger auf die volle Stunde und die Uhr begann zu schlagen. Tiefe, wohltönende Schläge.
Doch ich war so erschrocken, daß ich den Halt verlor und mitsamt der hölzernen Bank umfiel.

Muß ich sagen, daß genau in diesem Moment der Pastor die Tür zu seinem Zimmer aufmachte und in voller Größe vor mir stand?

Au weia! Was würde der jetzt machen? Würde er mir ein paar Ohrfeigen verpassen?

Doch der dicke und gemütliche Mann lachte nur: „Was machste denn für Turnübungen hier, Jüngelchen?“

„Ich? ich wollte nur die Uhr sehen…“

„Die Uhr? Meine schöne große Standuhr? Aber die kannst Du Dir doch gerne anschauen“, sagte der Pastor, nahm mich bei der Hand und führte mich die Treppe hoch.

Ehrfürchtig stand ich vor der Uhr mit ihrer großen Glasscheibe, hinter der zwei dicke Gewichte an Ketten hingen und ein langes, schweres Pendel hin und her schwang.

„Tolle Uhr, das“, sagte der Pastor und öffnete die Tür der Uhr und gewährte mit einen Blick ins Innere.

„Findeste die toll?“ fragte er und ich nickte. Zu Hause hatten wir nur eine Küchenuhr aus Kunststoff, die unten eine herausnehmbare Eieruhr zum Aufziehen hatte.

So eine schöne Standuhr mit einem so wohltönenden Schlag hatte ich vorher noch nie gesehen.
Der Pastor lächelte und holte einen Hocker von oben: „Los, stell Dich da mal drauf, ich zeige Dir mal das Uhrwerk und erkläre Dir, wie die funktioniert.“
Eine Stunde lang erzählte der Pastor über Uhren, Uhrwerke und wie die verschiedenen Uhren funktionieren.

„Eines Tages“, versprach er mir, „nehme ich Dich sogar mal mit rauf auf den Kirchturm und zeige Dir die große Uhr da oben.“

Wie gesagt, das hatte alles eine Stunde gedauert und auf einmal fiel dem frommen Mann ein, daß er seine Zeit mit mir vertrödelt hatte und er sagte: „So, jetzt muß ich aber weiter machen, ich habe noch viel zu tun.“

Mit diesen Worten begleitete er mich nach unten und schob mich zur Tür hinaus.

Ich weiß bis heute nicht, was er eigentlich von mir gewollt hatte.

Doch von diesem Tag an, ist mir diese Standuhr und ihr langsames Ticken und ihr tiefer, wohltönender Schlag nicht mehr aus dem Kopf gegangen.

Die Jahre vergingen, der Pastor ging in Rente und ich aus dem Ruhrgebiet weg.
Eines Tages hörte ich, der Mann sei verstorben und längst schon hatte ich ihn fast vergessen, da stand ich eines Tages in Heidelberg vor einem Antiquitätenladen und sah im Schaufenster eine Standuhr.
Sie war längst nicht so wie die vom Pastor, aber sie erinnerte mich gleich wieder an ihn und schon hatte ich auch wieder diesen schönen Ton ihres Schlagwerkes im Ohr.

Was mochte aus der Uhr wohl geworden sein?

„Wozu gibt es Telefon?“, dachte ich mir und als ich wieder zu Hause war, rief ich kurzerhand in meiner alten Heimat an und fragte im Pfarrbüro einfach nach der Uhr.
Das heißt, ich wollte dort nachfragen, doch eine Stimme vom Band verkündete mir, ich sei mit der Seelsorgeeinheit Nummer irgendwas verbunden und das Büro sei nur noch an einem Vormittag in der Woche besetzt.
Von einem Freund erfuhr ich dann, daß das alte Pfarrhaus längst nicht mehr bewohnt würde und nun ein junger Pfarrer aus dem Nachbarstadtteil gleich vier Gemeinden betreue…
Was ein Niedergang!

Ob der alte Küster noch lebt, fragte ich mich… Doch auch der war inzwischen längst verstorben. Küster sei seit vielen Jahren schon der Dietmar. Der Dietmar? Der ist doch so alt wie ich, schoß es mir durch den Kopf und dieser Gedanke führte mir vor Augen, wie alt ich inzwischen selbst schon geworden war.
Ja, die Kinder von damals sind heute auch schon ältere Leute.

„Dietmar“, sagte ich am Telefon, „weißt Du, was aus der Standuhr im Pfarrhaus geworden ist?“

„Die Standuhr? Ja sicher! Wir haben das Pfarrhaus vor drei, vier Jahren ausgeräumt und die Uhr steht im Gemeindehaus auf dem Dachboden. Die haben wir sogar auf dem Kirchenbasar verkaufen wollen, aber die hat keiner gewollt.

„Kann man die kaufen?“

„Sicher doch, da hängt, glaube ich, sogar noch das Preisschild von damals dran, wenn ich mich nicht irre, soll die 200 Euro kosten.“

Was sind schon 300 Kilometer hin und 300 Kilometer zurück?

Ha, ist das schön!
Gut, vielleicht gibt es schönere Uhren auf der Welt, vielleicht welche mit einem besseren Uhrwerk, mag alles sein.

Aber ich habe sie jetzt direkt vor meinem Büro auf dem Treppenabsatz stehen, die Standuhr vom Pastor, die mit dem langsamen Ticken und dem wohltönenden Schlag.

Manchmal gehen Kindheitsträume in Erfüllung.


Ich habe noch einmal die wichtigsten Schlagwörter (Hashtags) dieses Artikels für Sie zusammengestellt, damit Sie sich besser orientieren können:

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Die Geschichten von Peter Wilhelm sind Erzählungen und Kurzgeschichten aus dem Berufsleben eines Bestatters und den Erlebnissen eines Ehemannes und Vaters.

Die Geschichten haben meist einen wahren Kern, viele sind erzählerisch aufbereitete Tatsachenerzählungen.

Die Namen, Geschlechter und Berufe der erwähnten Personen sind stets verändert.

Lesezeit ca.: 11 Minuten | Tippfehler melden | © Revision: 15. Januar 2014 | Peter Wilhelm 15. Januar 2014

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Chris
10 Jahre zuvor

…und wenn es nur so etwas ist – die Einbindung in eine Kirchengemeinde kann schon viel Gutes haben. Ich bin jetzt nicht 1000% katholisch – aber wir hatten eine Pfarrbibliothek mit einer ehrenamtlichen Leiterin über 80 – die empfiehl mir mit so ca. 6-11 Jahren einige Bücher, aus denen ich mehr lernte als in so manchem Schuljahr! Die Leiterin und die Bibloithek (es fand sich keine Nachfolgerin…) sind längst Geschichte – mein Wissen nicht!

TOM, vielleicht bist Du heute ganz froh, dass sich der Pastor nicht mehr erinnerte, was er WIRKLICH wollte… *zensiert* 😉

Chris
10 Jahre zuvor

is spät am Tach – Sorry für die Fehler!

10 Jahre zuvor

Es ist schön, wenn Kreise sich schließen. Wenn auch erst Jahrzehnte später.

berit
10 Jahre zuvor

Göttliche Fügung mal anders 🙂

DerTechniker
10 Jahre zuvor

Weil wir gerade davon reden: Kennt jemand einen „echten“ Uhrmacher in Berlin, der eine alte Wanduhr (ca. Ende 19. Jhd) reparieren kann?
Bei meinen Eltern haengt seit ich denken kann diese Uhr. Deren Ticken (einen Gong hat sie leider nicht) hat mich meine ganze Kindheit und Jugend begleitet. Leider ist diese Uhr seit Jahren kaputt, haengt nur als Dekoration, und meine Eltern finden in ihrer/meiner Heimatstadt einfach keinen Uhrmacher, der sich die Reparatur zutraut.
Kennt Ihr dieses Gefuehl, in einen seit Jahren vertrauten Raum zu kommen und zu spueren, dass irgendetwas anders ist, ohne es bennenen zu koennen? Ein leichtes, unterschwelliges Unbehagen und Fremdheitsgefuehl ensteht, obwohl der Raum der selbe ist -nur weil dieses Ticken fehlt…

Picho
Reply to  DerTechniker
10 Jahre zuvor

Uhrmacher Braune, 033203 79116, der Laden ist in Kleinmachnow, einem Vorort im Südwesten Berlins.
Der Mann ist Spitze, hat sogar eine Stutzuhr Baujahr ca. 1820 (Dachbodenfund) wieder hingekriegt…kann ihn nur empfehlen.

DerTechniker
Reply to  Picho
10 Jahre zuvor

Herzlichen Dank fuer den Tipp, liegt sogar nicht allzuweit weg von mir (Steglitz)

Mauermer
10 Jahre zuvor

Hallo Techniker, vielleicht dort: http://www.meister-friedrich.de/html/service.html. ich bin nicht aus Berlin, aber die Website sieht vernünftig aus.

MaRode
10 Jahre zuvor

Hach, kenn ich! Bei mir zuhause steht ein wunderschönes Röhrenradio!

Matze65
10 Jahre zuvor

Schön!
Und, ja, eines der ehemals zwei alten Röhrenradios ist hier auch noch vorhanden. Mit „magischem Auge“.

10 Jahre zuvor

Unheimlich schöne Geschichte. Aber interessant, dass du erzählst, dass du ein bisschen Angst hattest, als du ins Pfarramt musstest. Ich gehe da relativ angstfrei hin. Aber ich bin ja auch schon 22, als Kind hätte ich das sicher anders gesehen.^^

sonja
10 Jahre zuvor

Hallo Tom, ich verstehe Dich so gut: bei mir steht die Standuhr meiner Grosseltern, die mich an die Nächte erinnert, an welchen ich in deren großen Haus auf der Treppe wartete, bis der grosse Zeiger ganz oben und der kleine ganz unten war. Dann durften wir Kinder zu Oma und Opa ins Bett kuscheln, noch ein bißchen vor uns hin dösen und auf den Beginn des Tages warten.
Auch wenn sie hier nicht mehr schlägt ( wohne in einem Mehrfamilienhaus) erinnert sie mich noch täglich an meine schöne Kindheit. Und wenn ich sie öffne riecht sie noch nach der Wohnung meiner Grosseltern…

Oliver
10 Jahre zuvor

Ich bin sicher, der Pastor ist glücklich darüber, dass die Uhr ihren Weg zu jemandem gefunden hat, der sie wertschätzt und bei dem sie in guten Händen ist.




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