Geschichten

Es ist kalt

Wie wird der Mund einer Leiche verschlossen?

Vorhin geht meine Frau, die seit gestern Abend wieder da ist, nochmal an den Briefkasten, um das Werbeblättchen zu holen und bringt mir einen Briefumschlag mit. Außerdem sagt sie: „Du, da unten sitzt einer auf der Treppe.“

Also bin ich raus, um den Mann von unserer Treppe zu verscheuchen. Wie meine Frau mir sagte, habe der ’ne Pulle‘ dabei. Daß da bei uns jemand sitzt und was trinkt, das passt mir nicht, das ist kein gutes Bild. Während meine Frau den Seitenweg genommen hat, gehe ich durch den Haupteingang und schalte beim Rausgehen die Beleuchtung ein. Im Kopf notiere ich, daß ich die Zeitschaltuhr umstellen muss, es wird jetzt früher dunkel.
Im aufflammenden Licht sehe ich, daß das Manfred ist. Er wirft mir einen Blick über die Schulter zu, hebt eine volle Cognacflasche hoch und sagt: „Wollte ich zurückbringen, hab mich aber nicht zu klingeln getraut.“

Mit Manfred hatte ich Cognac getrunken, als er bei mir ein Kreuz für den Straßenrand abgeholt hat, weil sein 15jähriger bei einem Unfall ums Leben gekommen ist.

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Ich setze mich zu ihm, klopfe eine Marlboro (dies ist kein von Marlboro bestellter und finanzierter Artikel, auch nicht von trigema und nicht von trigami) aus der Packung und geb ihm die. Feuer hat er selbst und dann sitzen wir da auf der Treppe und schweigen.
Es vergehen bestimmt 15 Minuten, dann sagt er: „Is kalt, geh’n wer rein?“

Hoffentlich will der jetzt nicht schon wieder mit mir Cognac trinken, ich habe in letzter Zeit immer so lange damit zu kämpfen, wenn ich mal saufe. Aber irgendwie habe ich das Gefühl, daß der Cognac nur ein Vorwand wäre. Was wird er wollen?
Ich kann es mir fast denken, denn kaum sind wir in der Halle, da sagt er: „Habt ihr ihn schon geholt?“

Ja, haben wir. Am späten Nachmittag ist der Junge von Manfred von unseren Männern aus der Pathologie geholt worden. Der sähe nicht schlimm aus, haben sie mir gesagt. Also sage ich zu Manfred, daß sein Sohn unten ist.

„Ich wollte nur mal gucken, wie er so untergebracht ist.“

Wir fahren mit dem Aufzug runter und ich zeige Manfred die unteren Räume, das Sarglager und dann setze ich ihn auf einen Ballen mit Hobelspänen, wo er warten soll, während ich ins Kühlhaus gehe. Er muß ja die anderen Toten nicht auch noch sehen und außerdem will ich erst mal schauen, wie sein Sohn aussieht.
Da liegt er, „Sven B.“ steht auf dem Zettel an der Trage. Ich klappe die Seitenteile runter und bin erstaunt. Da liegt der Junge mit strohblondem Haar und ist, so wie man das auf den ersten Blick sehen kann, vollkommen intakt. Wenigstens hat er keine Kopf- oder Gesichtsverletzungen.

Mit dem Fuß ziehe ich einen Rollwagen her, ziehe die Trage auf das Rollgestell und fahre Sven hinaus. Langsam erhebt sich Manfred, kommt näher, bleibt einen guten Meter entfernt kurz stehen und dann kommt er heran. So ein versteinertes Gesicht habe ich noch nie gesehen, ehrlich nicht. Manfred schaut mich fragend an, ich weiß nicht genau, was er will, aber ich nicke. Da nimmt er die Hand seines Sohnes, streichelt sie, schließt die Augen und atmet tief durch.

„Kalt“, sagt er und ich nicke wieder. „Muss wohl so sein“, sagt Manfred und wieder nicke ich. Was soll ich auch sagen?

„Soll ich Sachen bringen, zum Anziehen meine ich?“

„Ja, mach das.“

„Wie issen das, wer zieht den den an?“

„Unsere Männer.“

„Ich mein, das ist zehn Jahre her.“

„Was ist zehn Jahre her.“

„Na, dass ich Sven angezogen hab.“

„Willst du mithelfen, wenn er angezogen wird?“

Manfred schaut mich aus großen Augen an und nickt heftig, während er wohl Tränen hinunterschluckt.

„Kein Problem“, sage ich, „komm einfach morgen vorbei.“

„Ist so kalt, haste nicht ’ne Decke für ihn?“

Ich deute auf das Regal mit den ganzen Decken und Kissen und Manfred drückt und knetet sie fast alle, bis er die dickste gefunden hat.
Das ist aber ausgerechnet eine, die sich nie verkaufen ließ, mit komischen rosa Maiglöckchen drauf. „Die ist doch nicht schön“, sage ich.

„Is egal, die ist warm!“ sagt er.

Gemeinsam legen wir die dicke Maiglöckchendecke auf den Jungen, Manfred zögert, dann streicht er mit einem Finger über die rechte Hand seines Sohnes und nickt. Dann schieben wir Sven gemeinsam in den Kühlraum und fahren dann mit dem Aufzug nach oben. Manfred schweigt. Oben sagt er mir dann, daß er und seine Frau ihren Sohn noch einmal sehen wollen, aber sonst keiner.

„Jau, machen wir so“, sage ich und dann geht er die vordere Treppe wieder runter, winkt kurz über die Schulter und schlurft die Straße runter.

Ist wirklich kalt.

Hashtags:

Ich habe zur besseren Orientierung noch einmal die wichtigsten Schlagwörter (Hashtags) dieses Artikels zusammengestellt:

#kalt

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(©si)