Geschichten

In der Psychiatrie VI

Vorne rechts in der ersten Reihe sitzen Susanne und Ronja, die erste Reihe ist bei Trauerfeiern ja traditionell den engsten Angehörigen vorbehalten. Erst auf den zweiten Blick fällt mir auf, daß da ein Stuhl frei ist zwischen den beiden und das ist schon ungewöhnlich, sucht man doch sonst eher durch nahes Zusammenrücken gerade in dieser Situation Trost, Anlehnung und Schutz. Susannes Blick ist fest nach vorn gerichtet, sie ist käsebleich und verzieht keine Miene. Sie trägt ein schwarzes Kostüm, schwarze Strümpfe und etwas altmodische schwarze Pumps. Ronja hat eine dunkelblaue Hose an und eine dunkelgraue Strickjacke über einer weißen Bluse.

Auf der linken Seite des Ganges sitzen Frau Berg, Martins Schwester Gudrun, sowie deren Mann und ihre beiden Kinder. Frau Berg weint leise in ein weißes Taschentuch und schluchzt manchmal auf, Gudrun kümmert sich dann um sie, Susanne bewegt sich überhaupt nicht, so als ob sie aus Stein gemeißelt wäre.

Werbung

Die Trauerhalle ist bis auf den letzten Platz gefüllt und diejenigen die stehen müssen, werfen denen die rechtzeitiger da waren und einen Sitzplatz haben, nicht gerade freundliche Blicke zu.
Bis draußen auf den Vorplatz stehen die Leute, es sind sehr viele Schützenbrüder von Martin gekommen und die große Anzahl der Trauergäste zeigt doch, daß dieser ruhige und harmlose Mann sehr beliebt war.
Vor der Trauerhalle gibt es einen kleinen Tumult, ich muß hingehen und nach dem Rechten schauen. Zwei Frauen sind darüber in Streit geraten, wer von ihnen zuerst von Martins Tod erfahren habe und wer wohl die meisten anderen Leute angerufen hat. Wenige Sätze reichen, um für Ruhe zu sorgen, aber das gibt mir Gelegenheit mit ein paar Leuten ein paar Worte zu wechseln und es bestätigt sich, was bis dahin nur eine Vermutung war, die vorherrschende Meinung ist, daß Martin sich zu Tode gesoffen hat, von einer Selbsttötung spricht hier keiner.

Ein paar Tage lang war so etwas herumgemunkelt worden, wohl aber mehr um durch das Munkeln nur denjenigen, dem man etwas vormunkelt, dazu zu bewegen mehr zu erzählen. Keiner scheint die Wahrheit erfahren zu haben und so einigte sich die öffentliche Meinung, jenes geheimnisvolle und kaum zu beeinflussende, nebelige Etwas, auf die Version mit dem Totsaufen.

„Voorsicht!“ dringt es an mein Ohr. Es ist Hardy, der von ganz hinten einen riesigen Kranz durch die Menge schleppt. Daß er erst jetzt kommt, scheint mir doch reichlich geplant, doch bin ich erstaunt, wie Hardy aussieht. In seinem vielleicht etwas zu kurzen schwarzen Anzug macht er nämlich eine durchaus gute Figur. Sicher, ich hätte ihn vorher noch gewaschen und ihm die Haare geschnitten, aber immerhin hat er einen Anzug an. Ansonsten besteht seine Kleidung nämlich aus zwei ‚Outfits‘, eines für den Sommer, eins für die kalte Jahreszeit. Im Sommer kennt man Hardy nicht anders als in viel zu kurzen blauen Turnhosen, einem rotgefärbten Feinrippunterhemd und blauen Adiletten. Wird es draußen kälter, läuft er ausnahmslos in einer graugetigerten Joggingshose und einem tarnfleckigen Kapuzenteil aus Fleece herum, an den Füßen Adidas-Schuhe mit zwei (!) Streifen.

Den Kranz hat er sich umgehängt, als habe er ihn soeben beim Sechstagerennen gewonnen und warte nun darauf, daß ihn die jubelnde Menge auf die Schultern hebt. Einen Arm und den Kopf hat er hindurchgesteckt, was nicht besonders feierlich aussieht. Vor allem klemmt er sich beim Laufen ständig seine langen, fettigen Haare mit den Kranz ein, weshalb er nach jedem dritten Schritt den Hals verrenkt als wolle ein Reiher, der ein Krokodil verschluckt hat, genau das tun, wofür Reiher eben bekannt sind.
Seine Haare schneidet sich Hardy nach eigenem Bekunden genau zweimal im Jahr selbst und zwar mit einem Aufsatz für den Staubsaugerschlauch, den er sich im Shoppingkanal bestellt hat. In diesem Aufsatz rotieren Schneidwerkzeuge während man das Ganze an den Kopf hält und die Haare ansaugen läßt. Angeblich läßt sich damit ein wunderbarer Haarschnitt erzielen, bei Hardy zumindest klappt das nie und er sieht unmittelbar nach den Einsätzen dieser Wundermaschine aus, als habe in ein beidseitig armamputierter Friseur mit der Sense frisiert.

Hardys Lieblingswitz, wenn ihn mal jemand auf seine ungepflegten Haare anspricht, lautet:

„Morgen geh ich zum Friseur!“

Und wenn dann alle ungläubig schauen, fügt er hinzu:

„Und dann kauf ich mich ein Schampong und geh wieder! Hahahaha!“

Es liegt im Wesen dieses bundeswehrgeprüften Schnittbroterfinders, daß nur er allein vor Gott als begnadeter Witzeerzähler bestehen kann. Erzählt jemand anders einen Witz, kann Hardy niemals umhin, sofort zu erwähnen, daß dieser Witz schon sooo einen Bart habe und dann wendet sich Hardy ganz aufgesetzt gähnend ab. Gerne wartet er aber auch genau jene sechs Sekunden vor der Pointe ab, um diese dann vorab selbst zum Besten zu geben und den Witzeerzähler dumm und verärgert dastehen zu lassen.
Auf der anderen Seite erwartet Hardy natürlich, daß man über jeden seiner Erna- und Fritzchen-Witze herzhaft lacht.
Sagte ich schon, daß Hardy allgemein sehr unbeliebt ist?

In der Trauerhalle verlangsamt Hardy seinen Schritt und geht halbwegs feierlich nach vorne, um dort den Kranz auf einen Ständer zu hängen. Die Orgel beginnt zu spielen und treibt ihn von vorne weg. Er geht zwei Schritte rückwärts, bleibt stehen, verneigt sich und versucht sich an einem Kreuzzeichen. Seine kirchliche Unterweisung scheint aber schon ein paar Jahre zurückzuliegen, weshalb es bei einem Versuch bleibt und es von meiner Warte aus aussieht, als tippe er sich an die Stirn, um einen Vogel zu zeigen und fasse sich dann in den Schritt.

Wohin wird er sich wenden, wo wird er sich hinsetzen? Ich muß nicht lange raten.
Nein, er setzt sich nicht auf den freien Platz zwischen Ronja und Susanne, sondern weiter rechts direkt neben Ronja. Dabei legt er einen Arm hinter Ronjas Schultern auf die Rückenlehne ihres Stuhls. Das scheint das Mädchen nicht zu mögen, widerwillig schüttelt sie den Arm ab, aber Hardy bleckt nur seine etwas zu groß geratenen gelblichen Zähne zu einem sekundenschnellen Grinsen, nimmt aber seinen Arm nicht weg. Ronja beugt sich vor, um ja nicht von Hardy berührt zu werden, doch der nimmt den Arm jetzt von der Lehne und legt ihn direkt um Ronjas Schultern und es sieht so aus, als wolle er das Mädchen zu sich heranziehen. Ruckartig steht Ronja auf und geht hinüber auf die linke Seite und setzt sich einige Plätze neben ihrer Großmutter zu den Kindern ihrer Tante.

Im selben Moment ziehen der Küster mit dem schwarzen Kruzifix, Pfarrer Lieberknecht und vier Messdiener durch die Tür vorne links an der Seite ein und bleiben direkt nach dem Betreten der Trauerhalle stehen.
Es ist verabredet, daß die Schützen vor der Kapelle einen Böllerschuss abgeben und dann eine vierköpfige Abordnung an der Urne Totenwache halten soll.
Der Böllerschuss löst sich und manch einer, der ihn nicht erwartet hatte, zuckt zusammen. Dann kommen vier in Jägergrün, behängt mit allerlei klappernden Abzeichen und einer großen bestickten Fahne herein und postieren sich hinter der Holzsäule mit Martins Urne.

Die Urne ist messingfarben und schlicht, oben hat der Gärtner ein kleines Kränzchen aus Tagetes angebracht. Frau Berg hatte sich da so gewünscht, Studentenblumen seien Martins Lieblingsblumen gewesen.
Der Kranz den Hardy aufgestellt hat besteht aus weißen und gelben Nelken und hat ungewöhnlicherweise drei Schleifen. Auf einer steht „In Liebe und Dankbarkeit“ und auf der anderen „Susanne und Ronja“.
„In Liebe und Dankbarkeit“, nun, das ist schon ein starkes Stück, wenn man bedenkt, daß Susanne überall herumerzählt dieser Mann, von dem sie jetzt in Liebe und Dankbarkeit Abschied nehmen will, habe sie und ihre Tochter über Jahre hinweg grausam verprügelt.
Die dritte Schleife ist von Hardy und trägt den Text: „Meinem besten Freund zum Abschied – Hardy“

In Anbetracht dessen was ich inzwischen alles weiß, ist das eine geschmacklose Unverschämtheit und am Liebsten wäre ich nach vorne gegangen und hätte die Schleife vom Kranz abgemacht und Hardy zwischen seine gelben Zähne gesteckt…
Rudi und Gerti sitzen in der zweiten Reihe, beide haben ein Sträußchen in der Hand und an einem hängt eine Schleife mit dem Aufdruck: „Unserem besten Freund – Unvergessen!“
Ich sehe wie Rudi die Schleife abmacht und in seiner Jackentasche verschwinden läßt. Er will nicht mit Hardy auf einer Stufe stehen und auf Trauerschleifen um den Rang des besten Freundes buhlen.

Ein paar einleitende Worte, dann kommt der allgemeine Teil den Pfarrer Lieberknecht immer verwendet und dann wendet er sich direkt an die „lieben Hinterbliebenen“ und sagt ohne Umschweife:

„Es ist grausam jemanden auf diese Weise zu verlieren. Ich fühle mit Ihnen und kann mir vorstellen, wie schlimm der Verlust für Sie sein muß. Doch lassen Sie uns auch an Martin Berg denken, der sich dazu entschlossen hat, auf diese Weise und aus eigenem Antrieb aus dem Leben zu scheiden. Was muß er erst durchgemacht haben, welches Leid muß er empfunden haben. Allein die Vorstellung daran macht uns sprachlos und wir alle sollten uns gut überlegen, ob wir den Mund weit aufreißen und mit dem Finger auf diesen Mann zeigen oder ob wir nicht alle, jeder auf seine Weise, in irgendeiner Form dazu beigetragen haben, daß Martin sich so alleingelassen fühlte, daß er keinen anderen Ausweg mehr sah, als sich das Leben zu nehmen.“

Atemlose Stille.

Niemand rührt sich, alles schweigt.

Hashtags:

Ich habe zur besseren Orientierung noch einmal die wichtigsten Schlagwörter (Hashtags) dieses Artikels zusammengestellt:

Keine Schlagwörter vorhanden

Lesezeit ca.: 11 Minuten | Tippfehler melden


Hilfeaufruf vom Bestatterweblog

Das Bestatterweblog leistet wertvolle Arbeit und bietet gute Unterhaltung. Heute bitte ich um Deine Hilfe. Die Kosten für das Blog betragen 2025 voraussichtlich 21.840 €. Das Blog ist frei von Google- oder Amazon-Werbung. Bitte beschenke mich doch mit einer Spende, damit das Bestatterweblog auch weiterhin kosten- und werbefrei bleiben kann. Vielen Dank!




Lesen Sie doch auch:


(©si)




Rechtliches


IMPRESSUM   |   DATENSCHUTZ    |    COOKIE-RICHTLINIE (EU)    |   KONTAKT    |   BARRIEREFREIHEIT    |   NUTZUNGSBEDINGUNGEN    |   GENDER-HINWEIS

Über uns


Bestatterweblog Peter Wilhelm bietet die besten Informationen zum Thema. Fachinformationen, fair und transparent. Die Seite dient zur allgemeinen Information und zur Unterhaltung für Menschen, die sich für das Themengebiet dieser Seite interessieren. Die Seite wendet sich vornehmlich an Erwachsene, enthält aber keine für Kinder und Jugendliche ungeeigneten Inhalte. Wir geben ausschließlich unsere persönliche und unabhängige Meinung wieder. Die Autoren sind teilweise selbst betroffen und seit Jahren mit der Materie befasst.


WICHTIGE HINWEISE: Texte der Seite Bestatterweblog Peter Wilhelm ersetzen keine Beratung oder Behandlung durch Ärzte, Diabetologen, Hörakustiker, Rechtsanwälte, Steuerberater, Handwerksmeister und Fachpersonal. Sie dienen nicht dazu, eigene Diagnosen zu stellen, Behandlungen zu beginnen oder abzubrechen oder Medikamente einzunehmen oder abzusetzen. Anleitungen (Tipps & Tricks, Ratgeber) sind veranschaulichende Unterhaltung. Beachten Sie die einschlägigen Vorschriften! Fummeln Sie nicht Gas-, Strom- oder Telefonleitungen herum. Fragen Sie einen Experten! Wir übernehmen keine Haftung oder Verantwortung für möglichen Missbrauch oder Schäden, die tatsächlich oder angeblich, direkt oder indirekt durch die Informationen dieser Webseite verursacht werden. Wir übernehmen keine Garantie, dass Tipp & Tricks auch funktionieren und von Ihnen umgesetzt werden können. Kunden- und Patientengeschichten sind verfremdet und dramaturgisch aufbereitet. Sie erzählen individuell erlebte Erfahrungen, die bei jedem anders sind und abweichen können.


KEIN VERKAUF / KEINE FORSCHUNG UND LEHRE: Bestatterweblog Peter Wilhelm verkauft keine Produkte. Wir sind keine Ärzte, Hörakustiker, Rechtsanwälte, Steuerberater oder Apotheker. Wir betreiben keine Forschung und Lehre. Wir informieren ausschließlich im Rahmen der persönlichen Meinungsäußerung des jeweiligen Autors.