Geschichten

Katja, der Goldfisch -V-

Wie wird der Mund einer Leiche verschlossen?

Die Gemüsefrau wußte es natürlich ganz genau. Der Radek hat Katja vergewaltigt, dann erwürgt, die Treppe runtergestoßen und zerstückelt, jawoll, zerstückelt! „Sie müssen das doch am besten wissen“, rief sie mir zu, als ich ihren Laden betrat, um die ganz rudimentären vegetarischen Gelüste meiner Familie zu befriedigen.
Sicher, ich wußte das ganz genau und vor allem wußte ich genau, daß Katja nicht zerstückelt worden war.
Aber ich zuckte nur mit den Schultern, machte ein nichtssagendes Gesicht und als ich die gespannt wartenden Gesichter der Gemüsekundschaft sah, sagte ich nur: „Einen Blumenkohl bitte!“

Die Gemüsefrau erkannte sofort, daß mit mir heute kein Staat zu machen war und ich mich nicht als hintergundinformationenliefernder Depp mißbrauchen ließ und während sie mir meinen Blumenkohl in eine Papiertüte stopfte, erzählte sie schon weiter, daß Radek ja eindeutig der Täter gewesen sein müsse, denn die Frau vom Eiermann habe es genau gesehen, wie man den abgeführt habe, in Handschellen und Fußschellen und vier Mann hätten den tragen müssen. „Der kam mir ja schon immer suspekt vor, dieses Individuum.“

„Was? Ein Individdum ist der auch? Meine Güte, das hätte ich jetzt nicht von dem gedacht“, sagte eine Kundin mit Entsetzen in den Augen. Ich nahm meinem Blumenkohl, zahlte und ging.

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So ist es nämlich nicht gewesen. Man hatte Radek schlicht und ergreifend zu einer weiteren Einvernahme einbestellt, wie es so schön im Paralleldeutsch der Polizei heißt, und ihn dann da behalten. Besonders viel scheint er nicht zur Aufklärung der Sache beigetragen haben, denn schon am nächsten Morgen war er wieder draußen.
„Die hab soviel Fingerdrücke von mir, die könn sich ganze Revier damit tapezieren. Jetzt hab die auch Fingerabdruck von Mund gemacht, muß man an Ohrenstäbchen lutschen. Bin ich Zeuge, hab ich Aussage gemacht“, erzählte er Manni an der Tankstelle.

Nach und nach, so weiß man heute, haben die Polizisten einen nach dem anderen einbestellt und Herrn Bauer sogar in seinem Büro abgeholt.

Herr Bültgens, und das hatte ich ja zu Anfang der Geschichte schon angekündigt, sollte uns noch besonderen Ärger machen.
Und das kam so: Zwei, drei Tage nach der kleinen Trauerfeier bei uns im Haus, rief mich der zigarrenrauchende Oberaufseher unseres Krematoriums an. Das ist der, der uns alle keines Blickes würdigt, nach dem Klingeln harsch die Tür aufreißt und dann wortlos da steht, ein genervtes Gesicht macht und allenfalls mal dann Blickkontakt aufnimmt, wenn irgendetwas nicht nach seinen Wünschen läuft oder zu lange dauert. Ich sag ja immer: „Bei dem geht das so automatisch, der bekommt gar nicht mit, wer da reingeht oder wer da rauskommt. Dem kannste die Leichen unter Arsch wegklauen, das würde der nicht merken.“
Natürlich hat am Krematorium alles seine Ordnung, jeder Leicheneingang muß im „Leicheneingangsbuch“ verzeichnet werden und jede abgeholte Urne müssen wir auch dort eintragen. Aber der Zigarrenmann, der ohne weiteres ein Bruder von unserem quallenartigen Friedhofswärter hier vor Ort sein könnte, der ist vor lauter Unfreundlichkeit und Desinteresse ganz sicher nicht derjenige, dem auffallen würde, wenn da jemand zwei Leichen bringen oder zwei Urnen abholen würde und das nicht korrekt ins Buch einträgt. Er zeichnet, und zwar ohne hin zu schauen, die Quittungsabschnitte ab und bestätigt damit seinerseits den Ein- oder Ausgang, aber er weiß ganz sicher nicht, was er da abzeichnet.
Ein Eldorado für Krimischreiber!
Sein Job besteht im übrigen nur daraus, aus seinem kleinen Büro aus dem Fenster zu schauen, dabei den ganzen Tag fernzusehen und belegte Wurstbrötchen zu essen. Kommt ein Bestattungswagen vorgefahren, der ja nichts anderes wollen kann, als entweder einen Sarg abzuliefern oder eine Urne abzuholen, bleibt der Dicke auf seinem Hintern sitzen, belegt sich gerne auch noch mal umständlich ein neues Brötchen und erst wenn man geklingelt hat, setzt er sich in Bewegung. Eine tote Schnecke oder eine Schweizer Schildkröte wäre da schneller!
Die anderen vier Männer im Krematorium sind etwas netter, aber nur etwas. Sie wuseln und arbeiten den ganzen Tag und haben wirklich genug zu tun.

Okay, der Dicke rief mich also an und fragte nach „die Frau Bültgens“, wann wir „der denn bringen würden“, denn die Papiere „von die“ sind ja schon da. Der Amtsarzt käme morgen früh und wenn wir „der“ heute noch bringen täten, dann könnte der Arzt „der“ morgen untersuchen und seine Kollegen könnten dann „dem Leichnam“ einäschern.
Ich war etwas irritiert, denn meiner Meinung nach hatten Manni und sein Kollege die junge Frau längst dort abgeliefert. Ein Blick auf meinen Bildschirm bestätigte das, die Krema-Fahrt war ordnungsgemäß mit Datum und Namenszeichen eingetragen.

Ja, das könne gar nicht sein, erklärte ich dem Dicken, die Frau sei schon längst bei ihnen und das müsse ein Irrtum sein. Außerdem sei die obduziert worden und bräuchte somit keine zweite Leichenschau, vielleicht läge da ja das Problem.

„Au, das kann sein, da muß ich dem Kollegen ma‘ fragen gehen, die Obduzierten steh’n immer hinten in’ne Ecke und tun da warten, weil der Doktor Scholl die nich‘ ankucken tut. Da kontrolliert der nur die Papiere.“

Er würde sich wieder melden und ohne Gruß legte er auf.

Ich rief Manni an, der beteuerte, daß er und sein Fahrer den Sarg noch am Tag der Trauerfeier weggebracht hatten. Ich erkundigte mich, ob sie auch dieses Krematorium genommen haben, denn manchmal weichen sie auf die Nachbarstadt aus, je nachdem wo sie besser hin- und durchkommen. Aber da die Papiere ja in „unserem“ Krema waren, müsste meiner Vermutung nach auch der Leichnam dort sein. Und genau das bestätigte mir Manni auch: „Alles in Ordnung, Chef, wir haben die hier bei uns abgeliefert, mit den ganzen Papieren und mit der leeren Urne, alles korrekt beschriftet und so. Aber vielleicht weiß der Vater von der was, der ist ja an dem Tag auch um das Krematorium herumgeschlichen.“

Herr Bültgens? Am Krematorium?
Das ist ja nunmal merkwürdig.
Also, man muß wissen, daß die allermeisten Leute in der Stadt gar nicht wissen, wo das Krematorium genau liegt. Es ist am südlichen Ende des Hauptfriedhofs hinter einem dichten Baumbestand auf einem städtischen Betriebshof, dort wo auch die Winterschilder und der Splitt für Straßenausbesserungen gelagert werden. Es kommt ja normalerweise kein Bürger dorthin. Von der Straße sieht man es nicht und das Schild an der Einfahrt besagt nur „Feueranlage I / Betriebshof“.
Stattdessen reden alle Bürger beim hinteren Schornsteingebäude der alten Ziegelei vom Krematorium. Ziegeleibesitzer Grundmann hat sich vor über hundert Jahren einen klassizistischen Werksbau gegönnt, mit Säulen, großen Portalen und fast schon kirchenartigen Strukturen. Statt eines Kirchturms überragt ein etwa 30 Meter hoher Schornstein das Gebäude. Alles ist aus dunkelroten Ziegeln gebaut, abgesetzt mit grün glasierten Schmuckziegeln.
Grundmann ist längst tot, die Ziegelei längst Vergangenheit, aber die Gebäude stehen noch und sie stehen unter Denkmalschutz. Das ist in diesem Fall eher Fluch als Segen, denn keiner will, wegen der hohen Auflagen der Denkmalsbehörde, das Gebäude kaufen und sanieren und so verfällt es zunehmend.
Aber dennoch glauben die Bürger, weil es so schön nahe am Friedhof liegt, dieses Gebäude sei das Krematorium und manchmal sieht man alte Leute, die sich beim Vorbeigehen bekreuzigen oder einen wehmütigen Blick auf den längst erkalteten und rauchlosen Schornstein werfen, weil sie glauben, da sei einer ihrer Lieben in Rauch und Asche aufgegangen.
Daß der schmucklose Betonkasten mit dem Aussehen einer Post-Verladestation am anderen Ende des Friedhofs das Krematorium ist, das wissen nur die Eingeweihten.

Trauerfeiern oder Abschiednahmen von Verstorbenen finden da nicht statt und so kommen nur städtische Betriebsfahrzeuge und Bestatter dort hin.
Daß also Herr Bültgens da herumgeschlichen ist, das ist schon verwunderlich. Aber er kann sich ja schlecht den Sarg seiner Tochter unter den Arm geklemmt haben, das würde selbst dem Unfreundlichen aufgefallen sein.

„Die is‘ nich’hier, ihr müsst der noch bringen“, lautete demnach auch die Anweisung des Dicken, als er nach einer Weile wieder bei uns anrief. Ich beteuerte, daß alles in Ordnung sei und wir den Sarg vorbei gebracht hätten.

„Un‘ wer hat Euch dat abgezeichnet?“ wollte der Dicke wissen und ich konnte nichts anderes sagen als: „Sie, wer denn sonst?“, denn seine Unterschrift prangte auf dem Abschnitt in unserer Akte.

Manni war aufgeregt, er wollte sich keinen Fehler nachsagen lassen und war mit seinem Kollegen zusammen direkt in mein Büro gekommen. „Die wollen uns was am Zeug flicken!“ rief er aufgebracht: „Wir haben alles richtig gemacht, so wie immer.“

„Ich rufe jetzt den Bültgens an“, verkündete ich und wählte dessen Nummer.
Herr Bültgens gab sich ahnungslos. Er? Niemals! Er am Krematorium? Pffft, er wisse doch gar nicht wo das sei. Nein, nein, da müsse sich unser Fahrer vertan haben.

„Gut“, sagte ich zu ihm, „dann rufe ich jetzt die Polizei an, so kann es ja nicht sein.“

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Geschichten

Die Geschichten von Peter Wilhelm sind Erzählungen und Kurzgeschichten aus dem Berufsleben eines Bestatters und den Erlebnissen eines Ehemannes und Vaters.

Die Geschichten haben meist einen wahren Kern, viele sind erzählerisch aufbereitete Tatsachenerzählungen.

Die Namen, Geschlechter und Berufe der erwähnten Personen sind stets verändert.

Lesezeit ca.: 11 Minuten | Tippfehler melden | © Revision: 8. Juni 2012 | Peter Wilhelm 8. Juni 2012

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idriel
13 Jahre zuvor

*argh*
Noch ein CLiffhanger – Menno!!!
Die Spannung ist nicht auszuhalten! *an Tischkante nag*

13 Jahre zuvor

Cliffhanger am Morgen…. – ich geh jetzt dem Kind seine wohlerschrieene Nahrung zuführen und hoffe auf baldige Anschlusslektüre.

Katrin
13 Jahre zuvor

Tom, weiter!!! *hibbel*

Rockige
13 Jahre zuvor

*hust*autsch*
mit Halsschmerzen lachen tut noch mehr weh. „Individuums“ sind noch viel schlimmer und gefährlicher als ein Individuuum oder der Kumpan Individdum.
Auf jeden Fall bin ich schon auf die Fortsetzung gespannt.

Tzosch
13 Jahre zuvor

Ich hätt‘ mit vielem gerechnet, aber daß dieser Radek ein „Individdum“ ist. „Untergang des christlichen Abendlandes“, sag ich da nur!

Pythia
13 Jahre zuvor

Hat hier jemand was gegen Schweizer Schildkröten oder sind die als besonders langsam bekannt?

Matthias
13 Jahre zuvor

Lass dir ruhig Zeit, Tom. Die neuerliche Wendung muss erstmal verdaut werden, das kann schon mal ein paar Tage dauern.

Big Al
13 Jahre zuvor

„Die unendliche Geschichte“ habe ich aber anders in Erinnerung.
Ganz anders!
B. A.

Rockige
13 Jahre zuvor

B.A.
you made my day 😀

13 Jahre zuvor

[quote=“Pythia“]Hat hier jemand was gegen Schweizer Schildkröten oder sind die als besonders langsam bekannt?[/quote]
Also meine Sarggeschichte habe ich ganz sicher nicht als erster eingeschickt… 😛

[quote=“TOM“]Eine tote Schnecke oder eine Schweizer Schildkröte wäre da schneller![/quote]
…öhm… ich hatte einige Jahre lang Wasserschnecken als Haustiere. War immer sehr beruhigend, zu sehen, dass es noch langsamere Tiere gibt, besonders wenn sie etwas arbeiten müssen. Die sind jetzt allesamt in den ewigen Weidegründen drüben, schmachten nach den Fjorden, oder man nennt sie… „tote Schnecken“.

Tom!!!! Was treibt Radek bei mir?

13 Jahre zuvor

So kann das nichts werden mit meinem Silvestermenü… wenn ich alle paar Min auf das Bestatterweblog schauen muss!

Tom, du bist ein Sadist!

Horst
13 Jahre zuvor

Hmm, ich hab auch immer gedacht der Schornstein und das Ziegelgebäude gehört zum Krematorium… Wieder was gelernt.

13 Jahre zuvor

@Konni
da must Du vielleicht die Fetspritzer auf dem Laptopbildschirm in Kauf nehmen. Gibt es im Gastronomiezubehörhandel nicht inzwischen Laptophalter für Gasherde oder entsprechende Unterbaukonsolen für Abzugshauben?

BTW das Wetter hat mich an einer Fahrt ins Ahle-Wurscht-Land gehindert.

Pythia
13 Jahre zuvor

@ turtle
Deshalb die langen Pausen zwischen den Fortsetzungen – alles will gut recherchiert sein 🙂

… allerdings könnte es jetzt trotzdem wieder weitergehen … bitte!

13 Jahre zuvor

@ Pythia:
Genau!

Geduld ist eine Zier, doch weiter kommt man ohne ihr!

*fg*

13 Jahre zuvor

Ich kannte das eher als Ordenunk ist eine Zier …

13 Jahre zuvor

RUHE!!!

Sonst stellt Tom wieder fest, dass er dringenderes zu tun hat – kleiner Plausch mit der Gemüsefrau oder so….

Sensenmann
13 Jahre zuvor

Tom, du böses Individdum, du, schreib weiter! 😉

13 Jahre zuvor

Hm,
und ich dachte, bis Weihnachten erfahren wir alles. Aber war schon klar, es stand ja keine Jahreszahl dabei 😉

13 Jahre zuvor

@Tabte Jay
Ja, der macht immer so früh Feierabend 😉
Wenn er dann mit dem nächsten Teil nicht fertig ist, wird’s wieder nix.

13 Jahre zuvor

Ooooooch, noch immer keine Auflösung!
Vor lauter Spannung ist mir auch gar nicht mehr kalt 🙂

Uli
13 Jahre zuvor

Schweizer Schildkröten sind langsam… vor allem, wenn sie aus Bern kommen … *kicher* …

Aber Tom, ein bißchen gemein ist das schon, die Abbrüche an den entscheidensten Stellen … *grummel* …

Pythia
13 Jahre zuvor

Tante Jay hatte leider recht … Tom hat jetzt keinen Bock mehr 🙁

JohnB
13 Jahre zuvor

Wow, jetzt wird es aber wirklich spannend!

13 Jahre zuvor

@ Uli:

Meine Eltern sind Berner… und jetzt halte mal die Klappe 😛

13 Jahre zuvor

Schreckliche Schildkröten bilden selbsverständlich eine Ausnahme 😉




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