Geschichten

Opa Gleisberg -I-

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Herr Böttcher ruft mitten in der Nacht bei uns an. Er habe einen Fall für uns, wir möchten doch bitte in die Silbernagelstraße kommen und einen gewissen Herrn Gleisberg abholen.

Mich hat der Anruf aus tiefstem Schlaf gerissen und ich notiere die Angaben mehr in schlaftrunkenem Automatismus, doch mir entgeht nicht, daß Herr Böttcher am Telefon geweint hat.

Das ist etwas Besonderes, Herr Böttcher ist nämlich der Leiter eines Pflegedienstes und ruft uns immer mal wieder an. Vor Jahren ist er zufällig auf unser Unternehmen gestoßen und alle Beteiligten waren zufrieden, sodaß er uns seitdem immer mal wieder empfohlen hat.

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Natürlich nimmt das Pflegepersonal auch Anteil, wenn einer ihrer Schützlinge verstirbt, jedoch gehört das eben mit zu diesem Beruf dazu und entsprechend nüchtern sieht man das alles.

Daß Herr Böttcher so traurig ist, muß einen besonderen Grund haben.
Eine Dreiviertelstunde später fahren wir in der Silbernagelstraße vor und wie immer gehe ich zunächst mal ins Sterbehaus, während Manni draußen beim Auto wartet.
Ich kenne das von anderen Unternehmen, da marschieren die Bestattungshelfer gleich mit Trage oder Sarg hinein, alles soll schnell und unauffällig gehen.
Wir jedoch machen es seit jeher so, daß zuerst einer von uns zu den Angehörigen geht, sich vorstellt, sein Beileid ausspricht, die Lage peilt und sich den Verstorbenen anschaut.
Dann stellen wir stets die Frage, ob jetzt der richtige Zeitpunkt sei, um den Verstorbenen mitzunehmen und bieten an, noch einmal vor Ort Abschied zu nehmen.

Erst dann kommen wir mit der Trage und erledigen unsere Arbeit.

Es ist ein Dreifamilienhaus mit Hof und Anbau, im ganzen Haus scheinen nur die Mitglieder der Familie Olschweski zu wohnen, sehr einfache Leute, der Herr des Hauses steht mir in Unterhose und fleckigem Unterhemd gegenüber und hält mir erst mal eine Bierflasche hin, die ebenso angetrunken ist wie er: „Bierchen, Meister?“

Ich lehne mit eine Handbewegung ab und suche Herrn Böttcher, der steht in der Küche und blättert in den Sterbepapieren, als er mich sieht, kommt er sofort zu mir. „Ich bin erschüttert“ sagt er und packt mich am Arm, um mich aus der Wohnung zu ziehen. „Kommen Sie, wir müssen über den Hof in den Anbau.“

Der Anbau ist ein hölzerner Schuppen mit zwei Stockwerken. Oben erkennt man im schwachen Schein der Hofbeleuchtung die Klappen mehrerer Taubenschläge, unten gibt es eine Voliere, in der irgendwelche Vögelchen halb verschlafen von Ast zu Ast hüpfen. Mitten in der Voliere steht ein rostnadeliger alter Tannenbaum mit Lametta, der schon seit Jahren da stehen muß, so vollgeschissen haben ihn die Vögel.
Daneben geht eine Tür in den Schuppen und da, wo normalerweise der Taubenvater sein Vogelfutter richtet und wo die Käfige und Utensilien für die Vogelzucht aufbewahrt werden, da steht ein Pflegebett.
Ich muß zweimal hinschauen und die Bettdecke wegklappen, um das kleine, ausgemergelte Männlein zu finden, das darin verstorben ist.
Beine und Arme so dünn wie bei einer KZ-Leiche, der zahnlose Mund weit offen, der Körper grotesk in Fragezeichenhaltung verrenkt. Sein Rücken und sein Gesäß sind offen, der Mann hat sich wundgelegen und muß, wie es aussieht, höllische Qualen ausgestanden haben. Das Bettzeug ist mit Blut und Wundsekret versifft.

„Der war alt, den hat’s jetzt erwischt, besser ist das für den“, tönt hinter mir der angetrunkene Unterhemdenträger.

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