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Geschichten

Günther XXXVI

Günther stockte für einen Moment der Atem und sein Herz schien kurz auszusetzen, als die vier Leute vom Amt sich anblickten.
Lag da etwas im Argen? Würde es doch nicht dazu kommen, daß er Monika und Ute zurückbekommen würde?
Er hatte doch alles schon vorbereitet, die Betten der Mädchen frisch bezogen, Milch, Limonade, Cornflakes und Brot eingekauft. Was nun?

Doch Frau Ströttinger brach das kurze Schweigen, das Günther so in Angst versetzt hatte: „Herr Salzner, Sie glauben doch nicht allen Ernstes daß das alles ohne Papiere und Formulare funktioniert. Zunächst einmal fahren wir ins Amt, erledigen den Papierkram und dann holen wir die Mädchen. Da nehmen wir dann den VW-Bus, keine Sorge.“

Das sah Günther natürlich auf der einen Seite ein, auf der anderen Seite machte ihm diese weitere Verzögerung, diese erneute Hürde, dann doch zu schaffen. Er hatte sich vorgestellt, jetzt gehe alles reibungslos und doch war wieder erst ein Behördengang notwendig. Das bereitete ihm Unbehagen, wie ihm alles behördliche, aus verständlichen Gründen, Unbehagen verursachte. Er wünschte sich, Horst könnte ihm zur Seite stehen, aber der war vermutlich schon in Umzugsvorbereitungen oder weg; er wäre sogar mit dem Hanseaten Leo als Unterstützung zufrieden gewesen, aber Leo war tot. Auf einmal wurde ihm bewußt, daß er ganz alleine vor dieser Aufgabe stand. Nicht nur der Behördengang, nein, in einer Stunde oder so würde er ganz alleine mit seinen beiden Töchtern ein neues Leben beginnen.
Es war nicht das erste Mal, aber während dieser kurzen Fahrt ins Rathaus dachte Günther auch an seine ermordete Frau und stellte fest, daß der ursprüngliche Zorn, die erste Hitze der Wut längst verflogen waren und er in eine Phase gekommen war, in der er nur noch voller Wehmut und Trauer den erlittenen Verlust als Schmerz in seinem Herzen spürte.

Bis zu jenem Tag, als er seine Frau mit einem anderen Kerl überrascht hatte, war für ihn die Welt einfach in Ordnung gewesen. Abgesehen von den üblichen Streitereien des Alltags hatten er und seine Frau in Harmonie gelebt, waren sie alle eine glückliche Familie, die sich allmählich etwas aufgebaut hatte und eigentlich sorgenfrei leben konnte.
Seitdem hatte sich viel verändert. Die Frau ermordet, die Arbeit verloren, die geliebte Villa Kunterbunt abgerissen, ein Spielball willkürlicher Behörden geworden und vor aller Welt als Mörder gebrandmarkt. Mit alledem wäre er fertig geworden, wenn man ihm nicht auch noch die Kinder weggenommen hätte. Und jetzt, da es kurz bevorstand, die Kinder wieder zurück zu bekommen, wurde ihm schmerzlich bewußt, wie sehr ihm eigentlich auch alles andere fehlte.
Gut, die schmalen Einkünfte schreckten ihn nicht, er hatte sich damit abgefunden, daß er nur mit Hilfe der Sozialunterstützung leben konnte und für die Kinder würde er ja auch was bekommen. Anstelle der Villa Kunterbunt hatte er jetzt sein Bauwagengrundstück und bei rechtem Licht betrachtet, war das sogar noch etwas besser als die fußfeuchte Schuttbaracke.

Dieserlei Gedanken kreisten in Günthers Kopf und in die gespannte Erwartung mischten sich Selbstmitleid, Angst und Trauer.

Die drei Männer und die Frau, die mit ihm im Wagen saßen, sprachen die ganze Zeit über Belanglosigkeiten, Preise für Handytarife, geplante Urlaubsreisen und die Anzahl ihrer Überstunden.
Günther merkte, für diese Leute war es ein Arbeitstag, vielleicht kein ganz normaler Arbeitstag, aber eben doch nur Bestandteil ihres Berufes und sie ahnten nicht, wie sehr ihm die ganze Angelegenheit zusetzte und wie stark ihn das alles belastete.

Als der Opel von der Straße auf den Schlagbaum zusteuerte, der die Zufahrt zum Innenhof des Verwaltungskomplexes absperrte, die Schranke sich hob, das Schiebetor zur Seite fuhr und sich dann wieder hinter ihm schloß, drückte es Günther fast die Kehle zu. Zu sehr erinnerte ihn das an die Fahrt ins Gefängnis, wo er unschuldig und zur Untätigkeit verdammt, auf seinen Nachnamen und Paragraphen reduziert worden war.

„So, jetzt hüpfen wir mal eben rein und erledigen das“, strahlte ihn Frau Ströttinger an und Dr. Koslowski schlug ihm jovial mit der flachen Hand auf die Schulter: „Das wird schon!“

In der Tat, es dauerte wirklich nicht lange. Es war zwar ein Haufen Papiere und Frau Ströttinger und ihr Kollege Sack überschütteten ihn förmlich mit Ratschlägen, Papierdurchschlägen und Hinweisen auf das weitere Vorgehen.
Der einfache Mann nahm das alles nur wie durch eine Nebelwand wahr und verstand nur Satzfetzen. „Bis zur endgültigen Klärung…“ „…mit Hilfe unseres Sozialdienstes…“ „…selbstverantwortlich aber unter Aufsicht des Jugendamtes…“
Einmal kurz horchte Günther auf, als Gräbert ihm die finanzielle Seite zu erläutern versuchte. Günther würde aus einer Stiftung für ein halbes Jahr eine Zusatzleistung für die Eingliederung seiner Töchter bekommen, die würde aber zum Teil auf die Sozialleistung angerechnet, aber insgesamt sollte er doch ganz gut auskommen. Was Günther allerdings in diesem Moment aufregte, war die nebenbei, aus einer Unterhaltung zwischen Herrn Gräbert vom Wohlfahrtverband und Herrn Sack vom Jugendamt, herausgehörte Information, daß das Ehepaar Birnbaumer-Nüsselschweif insgesamt doppelt so viel bekommen hatte, wie er nun bekommen würde.

Günther schüttelte die schlechten Gedanken ab, freute sich über einen Pappbecher mit Automatenkaffee, den er, obwohl der Kaffee ziemlich heiß war, wie ein Verdurstender trank.

„So, dann is‘ ja alles unter Dach und Fach“, flötete Frau Ströttinger mit aufgesetzt guter Laune und klappte den grünen Aktendeckel zu. „Schreiten wir zur Tat und holen wir die Mädchen!“

Günther schloß kurz die Augen, holte einmal tief Luft und trank den letzten Schluck Kaffee. Dann stand er auf, rieb sich die Hände und sagte: „Endlich!“

Dr. Koslowski stieg nicht mit in den graublauen VW-Bus, er entschuldigte sich mit anderen Termin, wünschte viel Erfolg und alles Gute und schob die Schiebetür des Wagens zu.
Die Fahrt vom Rathaus zum Haus der Familie Birnbaumer-Nüsselschweif würde etwa 20 Minuten dauern und Herr Gräbert fragte die beiden Leute vom Jugendamt: „Wissen die Birnbaumer-Nüsselschweifs denn Bescheid?“

Herr Sack zückte wieder die grüne Aktenmappe, blätterte darin und nickte dann: „Ja, am Dreiundzwanzigsten haben die ein Schreiben bekommen.“

Gräbert runzelte die Stirn: „Und haben Sie da noch mal angerufen?“

Herr Sack reckte sich in seinem Sitz etwas auf und sagte leicht beleidigt klingend: „Ja, was denken Sie denn? Gestern habe ich angerufen, da lief der Anrufbeantworter mit der Mitteilung ‚Wir sind mal eben nicht da‘ und da habe ich denen aufs Band gesprochen.“

Günther hatte bei dieser Unterhaltung gar nicht zugehört, ihm war es viel zu warm in diesem Auto, sein Kragen wurde ihm viel zu eng und das Atmen fiel ihm schwer; Schweißperlen standen auf seiner Stirn und es war ihm übel. „Sind Sie aufgeregt, Herr Salzner?“, erkundigte sich Gräbert, dem das nicht entgangen war.

Günther nickte und Gräbert, der neben ihm saß, legte ihm seine Hand aufs Knie. „Wird schon werden.“


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Geschichten

Die Geschichten von Peter Wilhelm sind Erzählungen und Kurzgeschichten aus dem Berufsleben eines Bestatters und den Erlebnissen eines Ehemannes und Vaters.

Die Geschichten haben meist einen wahren Kern, viele sind erzählerisch aufbereitete Tatsachenerzählungen.

Die Namen, Geschlechter und Berufe der erwähnten Personen sind stets verändert.

Lesezeit ca.: 8 Minuten | Tippfehler melden | © Revision: | Peter Wilhelm 17. Oktober 2013

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7 Kommentare
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10 Jahre zuvor

Mooooooaaaaaaaahhhhh!!! Ich mag endlich wissen wie es weitergeht. Das ist spannender als jeder Krimi. Bitte bitte weiterschreiben, ich verzweifel sonst!

Glückauf
10 Jahre zuvor

Zielgerade. Tom bringt uns zum ende. Diesmal glaub ich dran.
(machkeinenscheiß)

topas
Reply to  Glückauf
10 Jahre zuvor

Neee…. ich glaube Tom schafft es noch, ein „C“ in der Durchnummerierung unterzubringen…

Salat
10 Jahre zuvor

Nöö, der nächste Stopp ist dann, wenn sie vor der verschlossenen Tür von der Schuttschabracke stehen…

Salat

Karin
10 Jahre zuvor

Das war mir schon klar, dass das kommt.
Mit Menschlichkeit hat das alles nichts zu tun.
Die „Familie“ Birnbaumer… hasse ich schon lange.

Alex
10 Jahre zuvor

Da muss doch auf jeden Fall die Gemüsefrau noch ihren Auftritt haben…

Gray
10 Jahre zuvor

/\/\/\/\/\/\/\/\/\/\/\/\/\/\/\/\/\/\/\/\/\/\/\/\/\/\/\/\/\/\/\/\/\/\/\/\

So. Dieses Gebirge – das sind die 36 (!) Klippen, an denen wir jetzt schon gehangen sind. Sylvester Stallone ist gar nichts dagegen, der war nur einmal Cliffhanger.

Ich hoffe, die Geschichte findet ein Ende, bevor wir die Alpen übertreffen… 😉




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