Trauerrituale und Begräbnis
Die Ahnenverehrung ist aufgrund hinduistisch beeinflusster Strukturen ein gruppenübergreifendes Phänomen und in der Kultur aller traditionell lebenden Roma- und Sinti-Gruppen verankert. Einflüsse der jeweils vorherrschenden Religion wurden – wie im Fall der pomana (Totenmahl) – in dieses seit Jahrhunderten tradierte religiöse System integriert und an die eigenen Glaubensinhalte angepasst. (1)
Während der Trauerzeit gibt es verschiedene, von Gruppe zu Gruppe unterschiedliche Rituale und Vorschriften. Trauerrituale haben wie andere Rituale eine Übergangsfunktion, die dem Toten den Weg in die jenseitige Welt bereiten und der Nachwelt nach einer Verarbeitungszeit über Verlust und Trauer hinweghelfen soll.
Bei den Sepečides ist es verboten zu tanzen, männliche Vlach-Roma dürfen sich drei Tage weder kämmen noch rasieren oder waschen. Das Rasierverbot gilt bei anderen Gruppen für die gesamte Trauerzeit. In der Vorstellung der Roma kann der Totengeist (mulo) des Verstorbenen eine bestimmte Zeit wiederkehren. Bei den Kalderaš beträgt die Zeit der möglichen Wiederkehr 40 Tage, bei anderen Gruppen (z.B. Sinti) bis zu einem Jahr. Erst danach kann der Verstorbene in die Gemeinschaft der den Menschen wohlgesinnten Ahnen aufgenommen werden. In bestimmten Situationen ist das Erscheinen des Totengeists durchaus erwünscht und wird als besondere Form der Zuneigung betrachtet. Fürchtet man jedoch die negative Einflussnahme des mulo, dienen Beschwörungsformeln und Rituale dazu, sich vor der Bedrohung zu schützen.
Abwehrrituale und Beschwörungsformeln
Feuer- und Wasserrituale sind dabei von besonderer Bedeutung. Traditionelle Roma gehen davon aus, dass sich der mulo vor beiden Elementen fürchtet und ihre Nähe scheut. Kündigt sich der Tod einer Person an, zünden Kalderaš Kerzen an, die bis zum Begräbnis brennen müssen. Dem Feuer und Licht wird eine reinigende und den Totengeist abwehrende Kraft zugeschrieben. Einer der schwerwiegendsten Schwüre der Kalderaš bezieht sich auf dieses Ritual:
Te del o Del te merav bi memeljako te xoxadem tu.
„Gott soll dafür sorgen, dass ich ohne Kerze sterbe, falls ich dich belogen habe.“
Um den Totengeist zu „ersticken“, nehmen rumänische Kalderaš ein Stück Erde vom Grab des Verstorbenen und werfen es in einen Brunnen. Von Bedeutung ist auch das so genannte „Knotenritual“. Während der 40-Tage-Frist wird an einer Schnur jeden Tag ein Knoten angebracht. Am vierzigsten Tag wird ein Knoten nach dem anderen wieder aufgemacht. Nach dem Öffnen jedes Knoten wird eine Flasche mit Flusswasser angefüllt und wieder ausgeleert.
In der Vorstellung der Roma können Totengeister auch in Träumen erscheinen und den Tod der betreffenden Person ankündigen. Die türkischen Sepečides verwenden folgende Beschwörungsformel zur Abwehr dieser Bedrohung:
Devlam, phando te avel leskoro drom kale kandrendar.
„Mein Gott, sein Weg soll mit schwarzen Dornen versperrt sein.“
Aufbahrung und Begräbnis
Unabhängig davon, welcher Religion die verschiedenen Gruppen angehören, wird die Hausaufbahrung der Aufbahrung in einer Leichenhalle vorgezogen. Während der Hausaufbahrung, die zumindest 24 Stunden dauern soll, darf der Verstorbene keine Sekunde allein gelassen werden. In Gegenwart des Toten darf weder gegessen noch getrunken werden. Männer und Frauen wechseln sich bei der Totenwache ab. Sowohl in christlichen als auch in muslimischen Gruppen übernahmen ältere Frauen die Rolle von Klageweibern. Das rituelle Wehklagen und Zerreißen der Kleider sollte auch zur Abwehr des Totengeists beitragen.
Wird der Verstorbene von zuhause abgeholt und zum Friedhof gebracht, ist es bei traditionell lebenden Vlach-Roma-Gruppen üblich, ihm Wasser nachzuschütten.
Amende kêren jek kakavi paj, aj kana ingêrdol o mulo pa khêr, śoren kodo paj pala leske, aj meken e kakavi kadja te xaštil, amen mothas, ando drom karing o mulo kodo (…)
„Bei uns bereitet man einen Kessel mit Wasser vor, und wenn der Tote aus dem Haus weggetragen wird, wird ihm das Wasser nachgeschüttet, und den Kessel lässt man „gähnen“, so sagen wir, in Richtung des Toten (…).“
Die muslimischen Sepečides kennen ebenfalls dieses Ritual, schreiben ihm jedoch eine gegenteilige Wirkung zu. Verreist z.B. ein Familienmitglied, wird ihm ein Glas Wasser nachgeschüttet. Für die Sepečides symbolisiert Wasser den Kreislauf des Lebens und drückt den Glauben an die Wiederkehr aus. Das Wasser signalisiert somit nicht Abwehr, sondern soll dazu beitragen, dass der Verreiste wieder gesund zurückkehrt.
Als gruppenübergreifende Traditionen können verschiedene, noch bis vor wenigen Jahrzehnten übliche Reinigungsrituale bezeichnet werden. Die durch die Gegenwart des Todes verunreinigten Menschen und Gegenstände mussten rituell gereinigt werden. Bei vielen Gruppen war es früher üblich, das Totenbett, das Zelt oder den Wohnwagen zu verbrennen, wenn der Zustand der Reinheit als nicht wiederherstellbar betrachtet wurde.
Drei Tage nach Eintritt des Todes findet die Beerdigung des Toten statt. Die Begräbniszeremonie selbst ist je nach Religionszugehörigkeit der Gruppe verschieden. Was jedoch die psychologische Dimension, die Bewältigung der Trauer betrifft, sind durchaus Gemeinsamkeiten aller Roma-Gruppen feststellbar: Roma-Begräbnisse laufen in der Regel emotioneller ab, als dies bei der jeweiligen Mehrheitsbevölkerung der Fall ist. Im Unterschied zu christlich-abendländischen Gepflogenheiten dienen die Trauerrituale der Roma nicht dazu, dem Schmerz nur insoweit Ausdruck zu verleihen, als er die gängigen Konventionen nicht gefährdet. Die Trauerrituale der Roma zielen vielmehr darauf ab, der Schmerzbewältigung keine Grenzen zu setzen. Auf den Verstorbenen abgestimmte musikalische Darbietungen sowie persönliche Gegenstände, die ins offenen Grab geworfen werden, schaffen eine zusätzliche emotionelle Nähe zum Verstorbenen.
Thodàm leskê, řaćia ando moxto, kon volil alkoholo. But źene, kon pel kadja, thon leskê řaćija, thon kasave buća, so volilas ando trajo, sar te na makar mulo, te na avel śelno khančesko, te avel les pe kuća lumnà, t‘ avel les sa.
„Wir gaben ihm Rakija in den Sarg, dem, der Alkohol liebt. Viele Menschen geben dem, der gerne trank, Rakija mit (ins Grab), man gibt ihm solche Sachen mit, die er gern hatte im Leben, damit er, auch wenn er schon gestorben ist, nach nichts einen Wunsch hat, damit er in jener Welt alles hat.“
Der Glaube an die Allgegenwart des mulo ist auch während der Begräbniszeremonie von zentraler Bedeutung, wobei wiederum Feuer- und Wasserrituale eine Schutzfunktion erfüllen.
Ein Brauch besteht etwa darin, nach Verlassen des Friedhofs ein Zündholz über die Schulter zu werfen und unter keinen Umständen zurückzublicken. Die österreichischen Kalderaš verwenden dazu hingegen einen Stein. Auf die Gefahr einer rituellen Verunreinigung durch den mulo ist vermutlich auch die Gepflogenheit der Kalderaš, sich bei Beileidsbezeugungen nicht die Hand zu geben, zurückzuführen.
1) Zu betonen ist, dass die verschiedenen Traditionen bei vielen assimilierten, zwangsassimilierten und sozial ausgegrenzten Roma-Gruppen nur mehr in Ansätzen bzw. überhaupt nicht mehr vorhanden sind. Die folgende Darstellung bezieht sich also ausschließlich auf Gruppen, deren traditionelle Soziostruktur nach wie vor intakt ist.
Quellen
Heinschink, Mozes F. (2002) Unveröffentlichtes Interview mit Dragan Jevremović (Kalderaš). Wien.
Heinschink, Mozes F. (2002) Unveröffentlichtes Interview mit Fatma Heinschink (Sepečides). Wien.
Phonogrammarchiv, Österreichische Akademie der Wissenschaften: Sammlung Heinschink: KS 36 (Kalderaš) .
Literatur
Cech, Petra / Fennesz-Juhasz, Christiane / Halwachs, Dieter W. / Heinschink, Mozes F. (eds.) (2001) Fern von uns im Traum … / Te na dikhas sunende … Märchen, Erzählungen und Lieder der Lovara, Klagenfurt.
Ficowski, Jerzy (1992) Wieviel Trauer und Wege. Zigeuner in Polen (= Studien zur Tsiganologie und Folkloristik 7), Frankfurt.
Fonseca, Isabell (1996) Begrabt mich aufrecht. Auf den Spuren der Zigeuner, München.
Heinschink, Mozes F. (2002) Zum Verhältnis zwischen Roma und Landlern. In: Bottesch, Martin / Grieshofer, Franz / Schabus, Wilfried (eds.) Die siebenbürgischen Landler. Eine Spurensicherung, Wien, pp. 381-408.
Remmel, Franz (1993) Die Roma Rumäniens. Volk ohne Hinterland, Wien.
Schindegger, Florian (1997) Lebensweise von Zigeunern in Wien am Beispiel der Festtradition der Kalderaš. Wien.
Stojka, Ceija (1988) Wir leben im Verborgenen. Erinnerungen einer Rom-Zigeunerin, Wien.
Stojka, Ceija (1992) Reisende auf dieser Welt. Aus dem Leben einer Rom-Zigeunerin, Wien.
Stojka, Karl (1994) Auf der ganzen Welt zuhause. Das Leben und Wandern des Zigeuners Karl Stojka, Wien.
Stojka, Mongo (2000) Papierene Kinder. Glück, Zerstörung und Neubeginn einer Roma-Familie in Österreich, Wien.
Vossen, Rüdiger (1983) Zigeuner. Roma, Sinti, Gitanos, Gypsies zwischen Verfolgung und Romantisierung, Hamburg.
Yoors, Jan (1982) Die Zigeuner. Frankfurt.
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