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Geschichten

Daniela und Beat -VI-

Wir haben es mit einer heiklen Situation zu tun. Daniela hatte versucht sich das Leben zu nehmen, als sie sich mitten im Abschiedsprozess von ihrem -durch einen Unfall plötzlich gestorbenen- Mann Beat befand. Ihr Schwiegervater Räto wollte zunächst weder sie, noch seinen verstorbenen Sohn Beat sehen, besann sich dann aber doch und besuchte sein totes Kind und beschloss, nun auch Kontakt zu Daniela aufzunehmen, die sich bis heute in einer psychiatrischen Einrichtung befand.

Da wir nicht weiter wußten, hat Sandy Beat einbalsamiert, Räto hatte dazu sein Einverständnis gegeben. Diese Maßnahme wurde dringend wichtiger, denn die Zeit schritt voran und mit ihr setzen langsam auch Veränderungen am Verstorbenen ein, die dringend aufgehalten werden mußten. Es wäre sonst auch kaum möglich gewesen, den Termin für die Trauerfeier mit dem Sarg noch länger hinauszuzögern. Morgen, am Karfreitag, soll diese stattfinden. Ein ungewöhnlicher Termin, aber in der privaten Trauerhalle eines Bestatters geht auch das und großartig kirchlich orientiert ist die Familie auch nicht.

Ganz früh heute Morgen hat Räto seine Schwiegertochter am psychiatrischen Institut abgeholt und sie sind, so erzählte er mir dann später, schweigend nebeneinanderher zum Auto gelaufen. Daß es überhaupt soweit kommen konnte, daß Räto und Daniela zusammengekommen sind, das bedurfte allerdings einiger beiderseitiger Überwindung.
Daniela ist nicht irre, sie war auch nicht weggesperrt und man hatte ihr außer leichten Beruhigungsmitteln auch keine Medikamente verabreicht. Der Aufenthalt im Institut diente der Feststellung, inwieweit sie wieder gefestigt ist, um möglichst ausschließen zu können, daß sie wieder Hand an sich legt.

Gegen elf Uhr sitzen mir beide gegenüber, Daniela schön wie eh und je und Räto sehr gelöst. Wie anders Menschen aussehen, wenn sie lächeln.
Keineswegs macht Daniela einen gestörten Eindruck, sie entschuldigt sich bei uns für die Unannehmlichkeiten, für den Schrecken den sie uns eingejagt hat und begründet ihre Handlung so:

„Ich wollte ihn einfach nicht alleine gehen lassen. Ihn einfach nur zu verabschieden, das wäre in diesem Moment für mich zu wenig gewesen, ich wollte ihn auf seiner letzten Reise begleiten.“

Vorsichtig erkundige ich mich: „Und dann wollen Sie ihn heute wieder besuchen?“

„Ja unbedingt! Sie brauchen keine Angst zu haben, ich werde nichts dergleichen wieder tun. Die Trauer war da noch so frisch, ich war nicht ganz bei Sinnen. Irgendwie erschien mir das als einziger Ausweg, ich fühlte mich so allein. Räto, verzeih mir, aber vor allem weil ich auch von Deiner Seite keine Hilfe zu erwarten hatte, fühlte ich mich besonders allein.“

Räto hebt die Schultern und läßt sie wieder fallen, dann breitet er etwas theatralisch die Arme aus und sagt: „Wir haben ja schon darüber gesprochen, es war halt wie es war und jetzt ist es anders. Laß uns das Gewesene vergessen.“

Daniela nickt und erzählt mir, wie ihr Schwiegervater mit einer einzelnen Rose zu ihr gekommen ist. Das sei die Rose der Versöhnung habe er gesagt und dann habe er den Finger auf den Mund gelegt, um ihr zu bedeuten, daß sie nichts sagen soll und hat dann gesagt: „Wir können alle die Uhr nicht mehr zurückdrehen. Was geschehen ist, ist geschehen. Wir können unser ganzes Leben damit verbringen, dem jeweils anderen die Schuld zu geben. Vermutlich wirst Du genau so viele und genau so gute Argumente haben wie ich, aber wäre es nicht klüger, wenn wir jetzt einfach nur noch nach vorne schauen?“

„Und dann bin ich ihm um den Hals gefallen, so habe ich mich gefreut“, strahlt Daniela und Räto hebt in gespieltem Vorwurf seinen Finger: „Und die Rose hast Du abgeknickt.“

Die Zeit ist gekommen, Beat steht wieder im Aufbahrungsraum. Er ist nur für dieses eine Mal nochmals hergerichtet worden und sieht sehr gut aus. Um die Augen herum wirkt er etwas eingefallener, aber das ist nicht dramatisch. Räto und Daniela haben sich an den Händen gefasst wie einst Hänsel und Gretel und folgen mir in den Aufbahrungsraum. An der Tür bleiben beide stehen, schauen sich an und Daniela legt ihren Kopf an die Schulter ihres Schwiegervaters. Der sagt mit tonloser Stimme: „Mann, was sind wir blöd gewesen, da muß erst einer sterben, daß wir wieder zusammenfinden.“

Beide treten vor und Daniela nimmt die Sachen auf, die sie beim letzten Mal mitgebracht hat. Wir haben sie ordentlich auf einen der Sessel gelegt. So als ob nichts wäre plappert sie auf Räto ein und erklärt ihm und vor allem ihrem toten Mann, was sie da alles mitgebracht hat. Ein Buch, sein Lieblingsbuch, eine CD mit seiner liebsten Musik und eine Lok von einer Modelleisenbahn, ein paar Schmetterlinge aus Papier, Fotos, ein Brief, eine Zeitschrift…
Ich gehe.

Eine gute halbe Stunde später schaue ich nach, Räto und Daniela sitzen Hand in Hand im Abschiedsraum und mir fällt auf, daß der Sargdeckel geschlossen ist. Räto nickt mit dem Kopf in Richtung Sarg: „Hab‘ ihn zugemacht, jetzt kann er auf die letzte Reise gehen.“ Daniela nickt und wischt sich ein paar Tränen aus den Augen.

„Jetzt bin ich fertig“, sagt sie, „jetzt weiß ich, daß er alles hat und kann beruhigt sein.“

Ich sage: „In der Trauerhalle ist auch schon alles gerichtet, morgen liefert ja sowieso keiner was. Alles ist schon fertig.“

„Dürfen wir das sehen?“ will Räto wissen und ich nicke: „Ja selbstverständlich.“

Dann kommt mir eine Idee und ich schlage vor, daß wir den Sarg gemeinsam rüberschieben und ohne weitere Worte fassen beide mit an. Langsam schieben wir Beats Sarg die etwa acht bis zehn Meter und dann steht er da, inmitten einem Meer aus weißen Blüten. Das war der Wunsch von Daniela gewesen und der Gärtner hat das genial umgesetzt. Kaum weiße Blumen, vielmehr große Vasen mit langen, weiß blühenden Zweigen irgendeines Baumes. Es sieht einfach toll aus. Für den Sarg hat Daniela ein Herz aus weißen Blüten bestellt und daran befindet sich eine schmale Schleife mit dem Aufdruck:

„Gute Reise, mein Schatz!“

Räto hilft mir noch, ein paar Gestecke vor den Sarg zu stellen, dann bleiben wir einfach eine kurze Zeit vor dem Sarg stehen. Daniela nickt auf einmal, sagt „So!“ und dreht sich um, Räto tut es ihr nach und wir gehen.

„Wissen Sie“, sagt Daniela, „Jetzt weiß ich, daß Beat auf seine Reise gehen muß, manchmal kann man es sich nicht aussuchen, wann und wohin man reist. Ich habe den Fehler gemacht, daß ich gedacht habe, er würde einfach ohne mich weggehen. Aber ich bin inzwischen dahintergekommen, daß er mein Mann geworden ist, in guten wie in schlechten Zeiten. Jetzt ist es vielleicht eine schlechte Zeit und er kann jetzt nicht mehr mein Mann sein, aber vielleicht treffen wir uns eines Tages irgendwo, irgendwie wieder, das weiß doch keiner. Die Wahrscheinlichkeit, daß man sich im jenseits wiedersieht, ist zumindest genauso groß wie, daß man sich nicht wiedersieht, also hoffe ich mal das Beste. Hier und jetzt ist er weg und für mich unerreichbar, das Leben geht aber weiter und hier in dieser Welt muß ich ohne ihn klar kommen. Es hat keinen Zweck jetzt erzwingen zu wollen, gemeinsam irgendwohin zu gehen.“

Vor allem“, sage ich, „beträgt die Wahrscheinlichkeit, Ihrer Theorie nach 50% und es wäre Dummheit, hätten Sie Ihr Leben für eine 50%ige Chance weggeworfen. Wenn es im Jenseits ein Wiedersehen gibt, dann gibt es das in vierzig Jahren auch noch.“

Danielas Schwiegervater klopft mir auf den Rücken, nennt mich einen Pfundskerl und bewundert Daniela, weil sie sich so viele Gedanken gemacht hat. „Morgen geht Beat dann?“ sagt er mehr als daß er es fragt und ich nicke.

„Gut, dann gehen wir jetzt nach Hause, damit wir morgen fit sind für den allerletzten Abschied“, sagt er.

Daniela tritt vor, streichelt noch einmal über den Sarg und dreht sich dann abrupt um und geht mit Räto hinaus. Über die Schulter wirft sie nochmals einen Blick auf den Sarg und ruft leise: „Tschüß!“

Dieser Text ist auch als Podcast verfügbar.


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Geschichten

Die Geschichten von Peter Wilhelm sind Erzählungen und Kurzgeschichten aus dem Berufsleben eines Bestatters und den Erlebnissen eines Ehemannes und Vaters.

Die Geschichten haben meist einen wahren Kern, viele sind erzählerisch aufbereitete Tatsachenerzählungen.

Die Namen, Geschlechter und Berufe der erwähnten Personen sind stets verändert.

Lesezeit ca.: 9 Minuten | Tippfehler melden | © Revision: 5. Februar 2014 | Peter Wilhelm 5. Februar 2014

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29 Kommentare
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Kiki
15 Jahre zuvor

Einfach nur: SCHÖN

DerBayer
15 Jahre zuvor

Ein echt gelungenes Ende für diese Geschichte mit ihren Höhen und Tiefen. Und wie immer wirklich gut geschrieben!

Falls die Beerdigung im RL wirklich erst Morgen ist wünsche ich Allen einen reibungslosen Ablauf und ein gutes Reisewetter 😉

hajo
15 Jahre zuvor

ich glaube, meine „Wasserschadenversicherung“ muss bald bemüht werden.
Tolle Geschichte und ebenso toll geschrieben!

15 Jahre zuvor


nein, die tränen kommen vom heuschnupfen.

15 Jahre zuvor

Mir könnten die Tränen grad nur so aus dem Kopf spritzen. Grad für Menschen wie mich, die mit dem Tod überhaupt nicht umgehen können, ist eine solche Herangehensweise sehr hilfreich.

Janni
15 Jahre zuvor

In ärztlicher Behandlung bekommt man grundsätzlich nie „leichte Beruhigungsmittel“; da bekommt niemand Baldrian oder Johanniskraut. Nee, die werden der schon Rauschgift, wie Valium angedreht haben dort. Aber was muss, das muss, woll?

Sensenmann
15 Jahre zuvor

Schön!

Ich wünschte, ich würde auch so verabschiedet, wenn es mit mir mal soweit ist…

Voo
15 Jahre zuvor

Das Leben schreibt doch die besten Geschichten.. wenn mans nicht besser wüsste, würde mans für ne Hollywood Erfindung halten.

Und wie immer toll geschrieben.

Nuki
15 Jahre zuvor

Eigentlich ein Happy End und trotzdem hat man das Bedürfniss zu weinen. Wie immer wunderbar geschrieben!

Matthias
15 Jahre zuvor

Achje *Träne wegdrück*

Ablenkungsfrage: Wer bezahlt den Schaden am Teppich?

B. Trunken
15 Jahre zuvor

Derjenige, der behauptet, dass die Beerdigung am 10.04.2009 sei.

15 Jahre zuvor

@Janni: Nein, definitiv nicht überall. Es gibt viele Kliniken, die durchaus auf Gesprächstherapie und leichte Beruhigungsmitteln setzen. Insbesondere bei Fällen wo absehbar ist, dass es eine reine Affekthandlung ist, wie in dem Fall.

Und ja, ich weiß wovon ich rede. 😉

Eulchen
15 Jahre zuvor

Welch Schicksale manche Menschen ertragen müssen ist sehr hart. Schön das sich hier zwei Menschen wiedergefunden die dringend einander brauchen. Wenn man solche Erzählungen liest, wird einen immer bewußt, das nur die Gesundheit zählt und das man sich bereits an kleinen Dingen im Leben erfreuen sollte.

Robert
15 Jahre zuvor

@Betrunken: Du hast offenbar die Geschichte gar nicht gelesen.
Am Karfreitag ist keine Beerdigung, sondern nur eine Trauerfeier. Der Mann soll dann eingeäschert werden und es gibt später eine Urnenbeisetzung. Von Beerdigung also keine Rede.

Dass der Termin nicht wirklich morgen ist, sondern irgendwann mal war, das weiss hier jeder.

Norbert
15 Jahre zuvor

Wunderbar, kein „Wie konnten Sie … !“ weder von Toms Seite (nicht, dass ich es erwartet hätte), noch von Danielas.

minibar
15 Jahre zuvor

Schnief, keine Fortsetzung mehr?

Laemmchen
15 Jahre zuvor

Und, kommt da doch noch ein dickes Ende???

15 Jahre zuvor

respekt, dass du dich nicht nur um die gestorbenen, sondern auch um die lebendigen so kümmerst. ohne dich wäre das wohl nichts mehr geworden mit den beiden.
man kann sich immer verkriechen und meinen, mit seinem eigenen kram schon genug beschäftigung zu haben. aber manche menschen machen die welt auch für andere besser.

Alwin
15 Jahre zuvor

Das Ende? Das dicke Ende wird noch außerhalb des Bestatters Hallen kommen, wenn Räto der Daniela nämlich die Schuld an beiden Toden vorwerfen wird. Und das kommt so sicher wie das Amen in der Kirche, in einem Monat oder zwölf. Eher in einem, schätze ich; Geduld ist ja nicht des Alten Stärke.

MiniMoppel
15 Jahre zuvor

Der Verlauf der Geschichte erinnert mich an den -eigentlich eher hohlen- Spruch „Wem Gott eine Tür zuschlägt, dem öffnet er gleichzeitig irgendwo ein Fenster“ (oder so ähnlich).
Durch den Tod von Beat haben Daniela und Räto wieder zueinander gefunden und können ihre Trauer gemeinsam wesentlich besser verarbeiten. Und ich glaube, dass Rätos Trauer ehrlich und aufrichtig ist, und dass er nicht, wie Alwin (#19) meint, in seine alte Sturheit verfällt. Dazu hat er wohl zu schmerzhaft erfahren müssen, wohin das führt.

Me
15 Jahre zuvor

Uah, hat es mich bisher berührt, gleitet es hier in Rosamunde-Pilcher-Kitsch ab und für mich lesen sich Rätos Reaktionen überheblich, arrogant und gespielt. Vielleicht werden sie ja noch ein Paar oder so. *örks*
Nö, die ersten Teile waren gut, aber diese Wendung und das Verhalten der Charaktiere ist nur noch Kitschtünche.

Robert
15 Jahre zuvor

Mir gefällt es, die besten Geschichten schreibt immer noch das Leben und wie Tom neulich im Radio sagte: Das was sehr nah an der Wirklichkeit berichtet wird, das halten die Leser gerne mal für erfunden und das was auch verständlichen Gründen erfunden werden musste, das glauben viele, weil es ja so nah am Leben ist.

McDuck
15 Jahre zuvor

Ich habe das Gefühl, die Geschichte ist noch nicht zu Ende. Vielleicht irre ich mich, aber zwischen den Zeilen meine ich eine weitere Wendung herauszulesen… Tom, mach’s nicht zu spannend! 😉

DerBayer
15 Jahre zuvor

@Me

Ja, es wird teilweise etwas kitschig. Aber das ist öfter so, wenn die Emotionen stark hochkommen, da rutscht die Realität gerne mal direkt zum Klischee. Nervt beim lesen evtl. etwas, aber nützt ja nischt 😉

Und auf Rosamunde-Pilcher-Niveau sind wir hier zum Glück noch lange nicht abgerutscht 🙂

hajo
15 Jahre zuvor

.. und was ist überhaupt Kitsch?
Wenn Ihr eine Ansichtskarte „Sonnenuntergang am Meer“ bekommt, sagt Ihr bestimmt auch: „was für’n Kitsch“ (oder so ähnlich).
Wenn Ihr dann aber selbst am Meer steht ..
Es ist nichts so kitschig wie die Realität 😉

DeserTStorM
15 Jahre zuvor

Menno da muss mir doch grad was ins Auge geflogen sein 🙁

Wirklich mal wieder toll geschrieben und sehr bewegend

CyberKater
14 Jahre zuvor

Jetzt lese ich mir die ganze Geschichte zum wiederholten Mal und muss immer noch heulen …
Ich hoffe Daniela und Räto finden doch noch das Lächeln wieder um das Leben meistern zu können, ich wünsche es Ihnen sehr !

jp
14 Jahre zuvor

Also Tom, manchmal kommst du mir vor wie ein Held aus einem Roman. Und irgendwie beruhigt es mich zu wissen, dass es Menschen wie dich wirklich gibt.

14 Jahre zuvor

Super 🙂




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