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Das Schwein -II-

Hartmann heißen die Leute, Klaus und Monika Hartmann. Beide sind, wie ich ihren Ausweisen entnehme, doch schon Ende Dreißig. Er ist Ingenieur, sie betreibt im Keller ihres Einfamilienhauses ein Kosmetikstudio.
Die gemeinsame Tochter Melanie ist in der Badewanne ertrunken. Da die Todesursache ungeklärt ist, haben sich Polizei und Staatsanwaltschaft eingeschaltet und die Leiche des Mädchens zur Obduktion beschlagnahmt.

„Sie muss ausgerutscht sein, da war ja Blut, sie hat sich den Kopf angeschlagen, ist bewußtlos geworden und ertrunken“, sagt Klaus Hartmann mit tonloser Stimme und drückt seine schluchzende Frau an sich. „Wir waren nur eine halbe Stunde weg. Ich bin von der Arbeit gekommen, meine Frau wartete schon auf mich, weil ihr das mit den Getränkekisten immer zu schwer ist, und dann sind wir gleich zum Supermarkt gefahren. Mit zwei Autos, weil ich anschließend noch in den Baumarkt wollte. Ich habe meiner Frau dann erst bei den Getränken geholfen und dann ist sie in den Supermarkt gegangen und ich bin zum Baumarkt.
Melanie war alleine zu Hause und wollte sich fertig machen, weil sie später noch mit einer Freundin auf einen Geburtstag wollte.
Als ich wieder nach Hause kam…“
Die Stimme des Mannes stockt, er schluckt die Tränen stumm in sich hinein.

Monika Hartmann ist aufgestanden und hinaus gegangen, sie kann es nicht mehr mit anhören, wie ihr Mann in scheinbar nüchternem Ton die Ereignisse schildert, die sich am späten Nachmittag des Vortags abgespielt haben.

Meine Bürodame Frau Büser ist inzwischen gekommen und steckt ihren Kopf zur Tür hinein, begrüßt uns kurz und fragt, ob irgendetwas benötigt wird. Ich gebe ihr ein Zeichen und sage ihr, daß sie sich um die junge Frau kümmern soll, die vermutlich irgendwo in der Halle sitzt.

Klaus Hartmann seufzt und sagt: „Das ist alles ein bißchen zu viel für meine Frau. Sie wird damit nicht fertig. Unsere Melanie!“
Er weint und ich drücke seine Hand. Männer tun sich ja immer so schwer, sich gegenseitig ihre Gefühle zu zeigen.
Dann fasst er sich wieder, schnieft in das Papiertuch, das ich ihm gereicht habe und fährt fort: „Stellen Sie sich vor, ich komme vor meiner Frau nach Hause, im ganzen Haus läuft in voller Lautstärke Musik und ich brülle noch nach oben, daß Melanie die Musik gefälligst leiser machen soll. Sie macht immer so laut Musik, wenn wir nicht da sind. Aber die hat sich nicht gerührt. Ich bin dann hoch, ich war schon auf Hundert, weil die wieder nicht hört. Das ist das Schlimmste an pubertierenden Mädchen, die ignorieren einen einfach. Da kannst Du rufen, da kannst Du brüllen, Du kannst es ihnen leise sagen, vernünftig mit ihnen sprechen, kannst ihnen drohen, alles egal. Die nicken das ab, denken sich vermutlich ‚Laber Du doch ruhig, Alter‘ und dann machen sie nichts, gar nichts. Das geht zum einen Ohr rein und zum anderen raus.
So hab ich gedacht, daß das gestern auch so wäre und bin hoch und dann erst in Melanies Zimmer und die Anlage runterdrehen, dann ins Bad und da lag sie dann unter Wasser. Fürchterlich, ganz weiß, ganz weiß, ganz…“

Der Mann stockt kurz, schnäuzt sich nochmals ins Taschentuch und erzählt weiter: „Das Wasser lief noch und das Allerschlimmste war, daß es eiskalt war. Die Heizung gibt immer so viel warmes Wasser, wie man für ein gutes Wannenbad braucht, dann kommt erstmal nur noch kaltes Wasser und da lag sie im eiskalten, glasklaren Wasser mit ein bißchen Schaum und das Wasser lief und lief und ging durch den Überlauf ab.
Ich hab’s dann abgedreht und erst mal in die Ecke neben’s Klo gekotzt.
Da kommst Du Dir vor, wie in einem Film, in den Du rein geraten bist, aber in den Du nicht rein gehörst. Das kann doch alles gar nicht wahr sein, habe ich gedacht, da wirste gleich wach und alles war nur irgendwie ein Traum oder so.
Alles war so surreal! Mir kam das Licht im Bad so grell vor. Dann hab ich Melanie sofort, das ging ja alles innerhalb von Sekunden, dann hab ich sie sofort aus dem Wasser gerissen und dann? Was macht man dann? Wissen Sie das?
Im Fernsehen beatmen die die immer nur ein bißchen und dann hustet derjenige einmal kurz ein bißchen Wasser aus und ist sofort wieder bei Besinnung.
Ich hatte meine letzte Schulung in Erster Hilfe beim Führerschein und da kamen ertrunkene Kinder nicht vor.
Ich hab dann ihre Füsse hochgehoben, weil ich dachte, das Wasser würde dann rauslaufen. Da kam auch Wasser, aber die blieb leblos, die hat sich nicht mehr gerührt, die lag einfach nur mit weit offenen Augen da. So nass, so kalt, so ohne Leben…

Ich hab dann begriffen, daß man da nichts mehr machen kann, mir war das sofort klar in diesem Moment. Die Feuerwehr hab ich angerufen. Glauben Sie, daß ich so aufgeregt war, daß ich nicht einmal mehr die Nummer vom Notruf wusste? Ich hab vorne auf dem Telefonbuch nachsehen müssen, so fertig war ich.
Und die stellen einem dann noch tausendmillionen Fragen. Aber schließlich ist dann doch der Rettungswagen gekommen, eine Notärztin, ein Haufen Sanitäter und schließlich auch die Polizei.
Und mittendrin in dem ganzen Trubel kam dann meine Frau nach Hause.
Das können Sie sich nicht vorstellen, ehrlich nicht! Die ist voll durchgedreht und zu dritt haben’se die festhalten müssen, als Melanie in den Kunststoffsarg da gelegt wurde. Im Bad war ja kein Platz, da haben die Melanie so rausgetragen, so nackt wie sie war und im Gang in diese Plastikwanne gelegt und abtransportiert.
Über eine Stunde hat das gedauert, bis die sie weggebracht haben. Wie viele Fotos die gemacht haben und wie viele Leute da in unserem Haus waren… Fürchterlich! Ehrlich, fürchterlich!“

Melanie sei dann von einem Leichenwagen abtransportiert worden und anhand der Beschreibung erkenne ich, daß es sich um den Wagen des Bestatterkollegens handelt, der immer vertragsgemäß die Transporte in das Rechtsmedizinische Institut vornimmt. Mit ihm werde ich keinen Ärger haben, er ist auf diese Transporte spezialisiert und schachert nicht um die Verstorbenen.
Anders ist das, wenn einer der vielen Bestatter, die ab und zu mal den so genannten Polizeidienst machen, einen nächtlichen Transport durchgeführt hat und die Angehörigen dann am nächsten Morgen zu einem anderen Bestatter gehen. Da tut sich der erste manchmal schwer, einzusehen, daß er nun den Verstorbenen wieder hergeben muss und keinen Bestattungsauftrag bekommen wird.

Sagte ich schon, daß dies ein schlechter Tag ist?
Frau Büser kommt leichenblass ins Beratungszimmer gestürmt, so kenne ich sie gar nicht, und winkt mir hektisch von der Tür aus zu.
Ich stehe schnell auf, gehe zu ihr uns sie flüstert mir zu: „Die Frau liegt vorne in der Halle und kriegt keine Luft mehr, ich glaube, die hat irgendwas genommen.“


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Geschichten

Die Geschichten von Peter Wilhelm sind Erzählungen und Kurzgeschichten aus dem Berufsleben eines Bestatters und den Erlebnissen eines Ehemannes und Vaters.

Die Geschichten haben meist einen wahren Kern, viele sind erzählerisch aufbereitete Tatsachenerzählungen.

Die Namen, Geschlechter und Berufe der erwähnten Personen sind stets verändert.

Lesezeit ca.: 8 Minuten | Tippfehler melden | © Revision: 30. Mai 2012 | Peter Wilhelm 30. Mai 2012

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Ma Rode
12 Jahre zuvor

[quote] Ich hatte meine letzte Schulung in Erster Hilfe beim Führerschein und da kamen ertrunkene Kinder nicht vor. [/quote]

Ganz großes Thema …

Glück Auf
12 Jahre zuvor

Ich frage mich wie, sich der Bogen zu einem Schwein schliesst.
Aber da ich mich dies im zweiten teil frage, lässt hoffen das es Teil III – XVIII gibt. Täglich einen und wir sind bei XVII an Heiligabend.

Smilla
12 Jahre zuvor

Er ist das Schwein?!

whiskey
12 Jahre zuvor

oh menno, tom und seine spannungsbögen

*ungeduldig an den fingernägeln knabber*

Christina
12 Jahre zuvor

@ 3 Smilla:

Das Gefühl hab ich auch …

kleiner_Geist
12 Jahre zuvor

scheiße…

12 Jahre zuvor

Da liegt jemand, mit Atemnot in der Halle und sie kommt ins Büro um mal leise zu flüstern das da was nicht stimmt? o_O

Ruft man nicht erstmal den Notarzt?

Tom625
12 Jahre zuvor

Ergänzung zum ersten Kommentar: Statt einem Hechelkurs (aus persönlicher Erfahrung überflüssig wie ein Kropf) kann ich jungen/angehenden Vätern oder Müttern auch nur ans Herz legen die Kohle lieber in „Erste Hilfe in der Familie“ zu investieren. Seeehhhr sinnvolle Sache.

Fleece
12 Jahre zuvor

@ 1 & 8:
Schön, dass nicht nur ich diesen Gedanken hatte! Dass man einen erste Hilfe-Kurs gebraucht hätte, bemerkt man eben immer erst in Notsituationen. :-/
In meinem EH-Kurs war ich traurigerweise nicht nur die Jüngste, sondern auch die Einzige, die den Kurs [i]freiwillig[/i] gemacht hat.
Dass es dann auch noch „Lebensrettende Sofortmaßnahmen am Unfallort“ gibt, um sich damit vor einem richtigen EH-Kurs zu drücken, macht die Sache auch nicht besser!

Und dabei gibt es so viele gut Angebote für (junge) Familien, beim Roten Kreuz, in Krankenhäusern, Familienbildungsstätten, VHS…
Ich kann nur [b]jedem[/b] ans Herz legen, die paar Euro und 8 Stunden zu investieren UND zu beherzigen!

Aber trotz der traurigen Geschichte: DANKE Tom, dass Du wieder schreibst! 😀

12 Jahre zuvor

Ich muss das an der Stelle mal sagen:

Wenn jemand in eine solche Situation kommt (Jemand ist zu Hause gestorben, die ganze Wohnung steht voll mit Polizei, Arzt, Bestatter, Kripo und so weiter…), dann KANN man darum bitten, dass ein Notfallseelsorger gerufen wird. Der kommt, so schnell er kann, und er ist beruhigend und tröstend und besänftigend einfach nur da. Manchmal kann er helfen, Dinge zu regeln und zu sortieren, mit denen Angehörige im Moment einfach nur überfordert sind… Und er will nichts. Er bringt nur ein Glas Wasser, wenn es gebraucht wird, und achtet auf das, was Nötig ist…

Notfallseelsorger kann man nicht selber rufen, aber die Polizei und die Feuerwehr kann das. Sie vergessen nur manchmal, das anzubieten. Darum weise ich hier auch darauf hin…

Notfallseelsorge – Erste Hilfe für die Seele

Held in Ausbildung
12 Jahre zuvor

oh..ohhh…




Rechtliches


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