Geschichten

Günther -XVII-

orgel

Günther machte sich total verrückt und war drauf und dran, bei der Polizei anzurufen, um seine Töchter als vermißt zu melden. Doch dann entdeckte er einen kleinen gelben Klebezettel auf der Mattscheibe seines Fernsehers:

„Die Mädchen sind bei mir. Keine Sorge! BN“

Also waren die Mädchen bei der dicken Frau vom Schwesternhilfswerk und Günther war zumindest vom Grundsatz her beruhigt. Wenigstens waren die Mädchen nicht weggelaufen oder in die Fänge eines Unholds geraten; was hatte sich Günther nicht alles ausgemalt! Vielleicht war es spät geworden und die dicke Frau hatte die Kinder ausnahmsweise mal über Nacht zu sich genommen. „So geht das ja nicht! Das werde ich der austreiben, wenn sie morgen kommt“, dachte Günther und nachdem er Thomas die allabendlich gleiche Geschichte vorgelesen hatte, legte er sich selbst auch ins Bett und schlief unruhig und von wilden Träumen geplagt.

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Aber am nächsten Morgen erschien die Familienhelferin gar nicht mehr bei Günther und nachdem er Thomas zum Bus gebracht hatte, entschied sich Günther dazu, beim Jugendamt anzurufen.
Dort gab man sich einsilbig. Das Ganze habe man an die Familienhilfe des Schwesternwerkes abgegeben und die ersten Berichte zeigten deutlich, daß auf die Betreuung durch die Familienhelferin vorerst nicht verzichtet werden könne. Weiter wisse man nichts, man arbeite schon ewig sehr erfolgreich mit den Familienhelferinnen zusammen und die Adressen und Rufnummern der einzelnen Helferinnen seien amtlicherseits gar nicht bekannt und selbst wenn sie es wären würde man einem wie Günther sie ganz bestimmt nicht herausgeben.
Er solle das doch einfach der Familienhelferin überlassen, die wisse schon was sie tue und wenn dann Ende des Monats der nächste Bericht komme, könne er ja nochmal anrufen…

„Das gibt’s doch gar nicht!“ schimpfte Günther gerade, als Leo hereinkam um sich seinen Pott Kaffee abzuholen. Leo war ganz im Detektivfieber und das war letztlich auch Günthers Problem.
Eigentlich war Günther ein Mann, der recht klar bei Verstand war und der, trotz seiner Vorliebe für eine umständliche Ausdrucksweise, präzise und vernünftige Entscheidungen treffen konnte. Doch in ihm kribbelte es. Er war inzwischen fest davon überzeugt, daß der ausländische Bauarbeiter, den sie seit Tagen belauerten, etwas mit dem Tod seiner Frau zu tun haben könnte.
Nun waren aber auch noch Günthers Töchter verschwunden und befanden sich in der ‚Obhut‘ von Frau Birnbaumer-Nüsselschweif. Da konnte Günther gar nicht richtig einordnen, ob das nun ein Fluch oder ein Segen war.
Immerhin schienen die Mädchen ja gut versorgt und die dicke Frau hatte ja nicht den Eindruck gemacht, als ob man bei ihr verhungern müßte…
…und wenn sich die Mädchen doch gut mit ihr verstehen, warum sollte man dann die gewonnene Zeit nicht nutzen, um weiter Sokoll zu beobachten und die Wahrheit heraus zu finden.

So wischte Günther abermals alle dunklen Gedanken an die Birnbaumer-Nüsselschweif weg, verdrängte die dunklen Träume der vergangenen Nacht und wandte sich gemeinsam mit Leo wieder ihrer Detektivarbeit zu.

So saßen Leo und Günther beim Kaffee beisammen und schmiedeten die aberwitzigsten Pläne, als draußen jemand an den Holzvorbau der Veranda klopfte. Günther wußte, daß das ein Bekannter sein mußte, denn nur Eingeweihte wußten, daß man da klopfen mußte, damit er vom Küchenfenster aus sehen konnte, wer da stand. Wer direkt bis vor die Tür der Villa Kunterbunt lief, konnte nicht gesehen werden und lief Gefahr, daß Günther gar nicht öffnete. Vor allem donnerstags nicht, denn da ging der ‚Klopfer‘, wie Günther den Gerichtsvollzieher nannte, in dieser Straße um.

Diesmal war es aber Günthers Freund Horst und den ließ Günther natürlich gerne herein. Wie jedesmal wenn er kam, stellte Horst ein Pfund Kaffee als Mitbringsel auf die Anrichte und nahm sich eine Tasse aus dem offenen Regal über der Kaffeemaschine. Erst roch er kurz in die Tasse hinein, spülte sie dann an der Spüle aus und nahm sich einen Kaffee aus der Kanne.
Das mit dem Riechen war keine Marotte von Horst, sondern eine Notwendigkeit. In der Villa Kunterbunt war es immer ein wenig feucht und manches dort roch etwas modrig, muffig und abgestanden.
Die Feuchtigkeit die von oben kam, die konnte Günther mit immer neuen Lagen Dachpappe bekämpfen, aber gegen die aufsteigende Feuchtigkeit von unten konnte Günther nichts tun. Die Villa Kunterbunt, wie er sie nannte, war ja ein Not- und Behelfsbau, der kurz nach dem Zweiten Weltkrieg aus Trümmersteinen gebaut worden war und stand nicht auf einem ordentlichen Fundament, sondern war direkt auf den Lehmboden des schmalen Grundstückstreifens gebaut worden.
Für ein paar Jahre, vor allem wenn man kräftig einheizte, war das Haus trocken geblieben, aber dann hatte die Feuchtigkeit begonnen, in den Ziegeln nach oben zu steigen. Deshalb wellte sich auch die gelbe, speckige Tapete überall und aus diesem Grund roch es immer auch ein wenig muffig.

Günther, Leo und die Kinder nahmen das gar nicht mehr wahr, Leo sowieso nicht. Der dürre Norddeutsche lebte ja in einem winzigen Wohnwagen, in dem er auch auf einem einflammigen Kocher ganze Mahlzeiten zubereitete. Man kann sich unschwer vorstellen, wie der Essensgeruch und der Fettdunst in seinen Klamotten und dem ganzen Wohnwagen hing.

„Was hockt ihr so trübselig beisammen?“ erkundigte sich Horst und Leo sagte: „Ich bin der Herlock und Günni is‘ der Sholmes.“

„Wie bitte?“ fragte Horst verständnislos und schaute verwirrt von einem zum anderen.

„Leo will sagen, daß wir gerade versuchen, wegen der Wahrheit und überhaupt, diese Albaner, Du weißt schon, das muß doch mal ans Licht und die Mädchen sind auch weg“, erklärte ihm Günther in seiner gewohnt rätselhaft verwirrenden Art.

Horst wunderte sich nicht über Günthers verworrene Äußerung, so etwas war er ja von seinem Freund gewohnt. Ihn elektrisierte die Aussage ‚und die Mädchen sind auch weg‘.

„Wo sind denn die Mädchen?“

„Bei dieser Familienhelferin vom Jugendamt“, antwortete Leo anstelle von Günther.

„Aha, haben sie Dir die Mädchen jetzt doch weggenommen?“

„Nee, die hat sie nur mitgenommen und wir wollen doch heute, wegen der Wahrheit…“

„Blubber nicht, Günther! Mal ganze deutsche Sätze! Und denk dran: Jeder Satz ein Gedanke!“ kommandierte Horst, der das Gefühl nicht los wurde, daß das etwas ganz schön im Argen lag und daß er gerade noch rechtzeitig gekommen war.

Die menschliche Sprache ist ja eine wunderbare Sache. Sie ist dazu geeignet, selbst umfangreichste Sachverhalte in kurzen Worten von Sender zum Empfänger zu transportieren. Das galt aber nicht, wenn man es mit einen norddeutschen Wohnwagenbewohner und einem in wirren Rätseln sprechenden Günther zu tun hatte.
Mehr als einer halben Stunde und etlicher Rückfragen bedurfte es, bis Horst sich einen halbwegs vernünftigen Überblick über die Sachlage gemacht hatte. Dann glaubte er verstanden zu haben, was da lief und faßte es zusammen:
„Also, wenn ich das jetzt richtig verstanden habe, dann hat man euch den Floh ins Ohr gesetzt, einer der beiden Albaner könne der Mann sein, der Günthers Frau erschlagen hat und parallel dazu macht sich hier eine Familienhelferin breit und nimmt einfach so mir nichts, dir nichts die beiden Mädchen zu sich? Und du, Günther, hast natürlich keine Ahnung, wo diese Frau wohnt und was sie mit den Mädchen vor hat? Beim Amt wollen sie dir nichts sagen und jetzt sitzt du mit Leo hier und trinkst Kaffee?
Ich fasse es nicht!“

Horst lehnte sich zurück, starrte kurz an die Decke und schüttelte langsam den Kopf. ‚Ja gut‘, dachte er, ‚Günther ist wegen dieser toten Frau im Gefängnis gewesen und hatte einen Prozeß über sich ergehen lassen müssen. Klar, daß er jetzt daran interessiert ist, sich endgültig reinzuwaschen und den wirklichen Täter zu finden. Aber daß er sich keine weiteren Gedanken um seine Töchter macht…“

Das konnte Horst nicht verstehen und ziemlich unerwartet knallte er seine Kaffeetasse auf den Tisch, so das der Kaffee überschwappte und begann den beiden den Kopf zu waschen: „Ihr habt doch nicht mehr alle Senkel im Regal! Euch hat man doch ins Gehirn geschissen! Wißt ihr das eigentlich? Leo kennt den Unterschied zwischen morgen und gestern nicht und du, Günther, hängst dich an so einen dran und spielst Detektiv? Ja sach mal, bist du noch ganz bei Trost? Zu allererst müssen deine Töchter mal wieder her. Es ist doch ganz klar entschieden worden, daß sie bei dir leben dürfen. Was hat diese Frau die Kinder dann mitzunehmen?

Und nach einer kurzen Pause fügte Horst noch hinzu: „Und eins will ich Euch, aber ganz speziell Dir Günther, noch sagen: Deine Frau ist tot. Sie ist das Opfer eines Verbrechens geworden und Dich hat man für den Täter gehalten. Sei froh, daß Du heil aus der Sache herausgekommen bist und Deine Kinder wieder bei Dir hast. Ob dieser Ausländer das nun war oder nicht… Spielt das wirklich eine Rolle? Du hattest Deine Frau doch weggejagt, zum Teufel geschickt, rausgeworfen… Was dann alles passiert ist, das ist schrecklich, aber ist es denn jetzt Deine Aufgabe, den Täter zu ermitteln? Mal abgesehen davon, daß Du so was gar nicht kannst. Tagelang lauert und kauert ihr jetzt schon und seid kein Stück weitergekommen. Meinst Du nicht, es wäre sinnvoller, Euren Verdacht der Polizei mitzuteilen?
Die können diesen Albaner doch vernehmen und vielleicht gibt es ja irgendwelche Spuren in der Asservatenkammer, die ihn überführen könnten.
Aber ganz egal, jetzt fahren wir erst mal los und holen die Mädchen!“

Günther standen Tränen in den Augen. Es war gut, daß Horst gekommen war und ihn mal wieder auf den Boden der Tatsachen zurück geholt hatte.
Vor lauter Detektivarbeit hatte er seine Töchter vernachlässigt und so der dicken Familienhelferin die Chance gegeben, immer mehr Einfluß zu gewinnen.

Jetzt war es an der Zeit, diesem Treiben ein Ende zu machen.

Was Günther nicht wußte: Die Birnbaumer-Nüsselschweif würde sich so leicht nicht geschlagen geben.


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Die Geschichten von Peter Wilhelm sind Erzählungen und Kurzgeschichten aus dem Berufsleben eines Bestatters und den Erlebnissen eines Ehemannes und Vaters.

Die Geschichten haben meist einen wahren Kern, viele sind erzählerisch aufbereitete Tatsachenerzählungen.

Die Namen, Geschlechter und Berufe der erwähnten Personen sind stets verändert.

Lesezeit ca.: 12 Minuten | Tippfehler melden | Peter Wilhelm: © 26. Dezember 2012

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5 Kommentare
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Rena
11 Jahre zuvor

Ist es überhaupt zulässig, dass eine Familienhelferin (egal, ob die Bi-Nü oder sonstwer) die Kinder einfach mitnimmt? Dachte, da müsste es erst einen richterlichen Beschluss geben.

Was wohl die Bi-Nü den Mädchen erzählt über ihren Vater? Bestimmt nix gutes. Bin gespannt, wie es weiter geht.

Kirstin
Reply to  Rena
11 Jahre zuvor

Ja leider schon. Denn es geht wie so vieles einfach beim Jugendamt unter und bis man sich wieder sein Recht erkämpft hat dauert dies.
Da kann auch eine Mutter die ihren 10-jährigen Sohn verloren hatte auf einmal 3 Monate später wieder vollzeit Kinder aufnehmen und dem Jungendamt dolle Storys über der Mutter erzählen. Danke, alles erlebt schon.

Reply to  Rena
11 Jahre zuvor

Jo, leider geht das so einfach.

Die Jugendämter machen immer mehr „outsourcing“ und es wird immer mehr in private Hände gelagert. Diese „Familienhelfer“ haben im Regelfall nicht wirklich ein Interesse daran, dass den Kindern geholfen wird. Mal sind es so verkalkte Gestalten wie die B-N, aber meist befinden die sich einfach in prekären Arbeitsverhältnissen.

Die Arbeitgeber heuern die für spezielle Fälle an, und sobald da keine Hilfe mehr nötig ist, verlieren die den Job wieder. Ergo sind diese Familienhelfer oft alles andere als Helfer.

Da liegt so viel im Argen, man weiß nicht, wo man anfangen soll.

simop
11 Jahre zuvor

So was ist im „richtigen“ Leben richtig, nicht aber wenn Rüsselschwein zuschlägt.

TickleMeNot
11 Jahre zuvor

Mir ist das alles zu spannend, ich les erst wieder wenn die Geschichte vollständig ist.

Euch allen noch schöne Weihnachten!




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