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Martina IV

Fehler durch Lektorin Alexandra bereinigt.

Mir wäre es ja lieb, man müßte manche Geschichten nicht erleben und wäre nicht auf irgendeine Weise in bestimmte Schicksale involviert. Die menschliche Sprache ist ja etwas sehr Wunderbares. Innerhalb von Sekunden kann man Informationen übermitteln, die anders ausgedrückt, ja selbst wenn man sie nur aufschreibt, wesentlich mehr Zeit, Raum und Aufwand in Anspruch nimmt.

Manche Gespräche erlebe ich zwischen Tür und Angel, manchmal wird Privates gerade mal beim Anziehen des Mantels geäußert, es gibt eine Gegenfrage, ein kurzes vielleicht dreiminütiges Gespräch und wenn ich dann hier sitze und es niederschreibe, merkt man erst mal, wieviel man in drei bis fünf Minuten gesprochenerweise erzählen kann.

Oft wird es auf meine ruhige und gemütliche Art zurückgeführt, daß mir viele Menschen ihr Herz ausschütten, ich selbst bin ja der Meinung, daß es hauptsächlich daran liegt, daß ich mich im Grunde gar nicht für meine Mitmenschen interessiere.

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Ja, ist wirklich wahr. Ich finde mich selbst so kompliziert, daß ich im Grunde genommen mit mir selbst und meinem steten Wahn genug zu tun habe. Die Frau, meine Kinder, ja, das sind Menschen zu denen ich Liebe empfinde, ansonsten habe ich schon so viele Exemplare des homo sapiens durch mein Leben rauschen sehen, daß ich fazitierend sagen muß, daß es so oft eine Enttäuschung war, daß ich fast schon geneigt bin zu sagen, es lohnt sich oft einfach nicht. Von Natur aus bin ich vielleicht sogar ein fauler Mensch oder aber man könnte auch sagen, daß ich über die Jahre des ständig neuen Kennenlernens müde geworden bin, weil sich meiner Ansicht nach, der Aufwand, den man treiben muß, um Beziehungen aufzubauen, sich mit Menschen auseinanderzusetzen und Kontakte zu pflegen, im Verhältnis zum Ergebnis als zu unverhältnismäßig erweist.

Ich pflege nie oberflächliche Konversation, ich bin selten oberflächlich und habe die Grenze bis zu der ich andere an mich heranlasse, sehr weit gesteckt. Ein komischer Kauz? Ja, vermutlich, aber insgesamt ein netter, etwas misanthropisch, etwas hedonistisch und trotzdem irgendwo auf Altruist. Ein Komischer eben.

Introspektiv wie ich bin, weiß ich um meine Macken, die, wollte man es populär ausdrücken, eine akute Mischung aus Adrian Monk und Gregory House darstellen.
Aber den Menschen scheint es zu gefallen.

Der sich daraus ergebende Mangel an der Neugierde auf Schicksale und Geschichten, weil stets mit dem Kontakt verbunden, bringt es mit sich, daß ich nicht oder nur selten aktiv auf Menschen zugehe und sie nach ihrem Woher und Wohin befrage. Ja, und genau diese Zurückhaltung ist es ganz sicher, die die Menschen dazu bewegt, von sich aus in mir einen ruhenden Pol der Verlässlichkeit zu sehen, jemanden, dem man alles erzählen kann. Dabei erhebe ich weder den Anspruch, in irgendeiner Form mehr als mein bloßes Zuhören zur Verfügung zu stellen, biete keine Lösungen und schon gar nicht verspreche ich hochheiliges und ewiges Schweigen.
Die Leute erzählen mir trotzdem alles.

Was schweift er wieder…

Martina, tja, was soll man dazu sagen. Herr Plewka hat seine Tochter stets behütet, ihr alles geboten und ist der festen Überzeugung gewesen, für seine Tochter nur das Beste getan zu haben. Inzwischen sieht er das anders.

„Ich glaube, Martina war einfach noch zu jung, um auf eigenen Beinen zu stehen. Aber wir hatten ja auch keine Ahnung, auf was wir uns da einlassen und in was für eine obskure Gruppe sie da hineingeraten ist. Wir glaubten, sie zieht mit einem netten jungen Mann zusammen und wollten nicht so sein wie unsere Eltern damals.“

Martina war ja, wir erinnern uns, mit Floyd zusammengezogen. Wie sich dann aber herausstellte, handelte es sich bei Floyd und Martina wohl nur in der ersten Zeit um ein Liebespaar und sehr schnell war die junge Frau in der Gruppe, zu der Floyd gehörte, aufgegangen und hatte sich einer sehr seltsamen religiös-esoterischen Bewegung angeschlossen.

Wenige Wochen der Schulung hatten ausgereicht, um in ihr die Begeisterung für eine Weltanschauung zu wecken, deren Sinn und Grundlage nur schwer zu verstehen ist, jedenfalls von ihren Eltern nicht verstanden wird. Erstaunlicherweise hatte die Gruppe nichts dagegen, daß Martina aus der Wohngemeinschaft zu ihren Eltern zurückkehrt, wenn auch zunächst nur vorübergehend.

„Aber wie gesagt, wir kamen mit ihr nicht mehr klar“, sagt ihr Vater Herr Plewka zu mir. „Sie war so verändert, so als hätte jemand ihren Kopf aufgeschraubt, das Gehirn gegen ein anderes ausgetauscht und ihn dann wieder zugemacht. ‚Das ist nicht meine Martina‘, hat meine Frau gesagt und ich habe noch versucht, sie zu beruhigen und ihr eingeredet, das werde alles schon und man müsse ihr einfach nur Zeit geben, sich wieder bei uns einzugewöhnen.

Was mir am meisten Sorgen machte, war ihr körperlicher Zustand. Sie war ja ohnehin sehr schlank, man könnte fast sagen mager. Aber diese komische Ernährung mit Körnern und Wasser, das kann doch auf Dauer nicht genug sein. Außerdem hat irgendwas mit ihrer Verdauung nicht gestimmt, andauernd Durchfall.
‚Du, wir gehen zum Arzt‘, hab ich gesagt und sie hat mich nur angelächelt, genickt und gesagt: ‚Nächste Woche, mir geht’s doch gut!‘ Und ich Idiot habe das gelten lassen. Wenn sie gesagt hätte, daß sie nicht zum Arzt geht oder irgendwie unfreundlich gewesen wäre, aber sie hat immer gelächelt, war freundlich; nur habe ich nie verstanden, worüber sie sich so freut.

Es hat dann aber auch wirklich nur noch ein paar Tage gedauert, da hatte sie einen Morgen so dunkle Ränder unter den Augen, mein Gott, sie sah aus wie eine Leiche…“

Herr Plewka verstummt, ihm ist bewußt geworden, was er da eben gesagt hat, dann hebt er in einer hilflosen Geste die Schultern, schaut auf einen imaginären Punkt an der Wand, schmatzt kurz mit trockenen Lippen und sagt:

„Am Abend ist sie dann zusammengebrochen und wir haben Dr. Farmakol geholt, ein Pakistani, aber sehr nett, zu dem gehen wir schon seit Jahren. Ist sowieso der einzige Hausarzt in der Umgebung, der noch ins Haus kommt. Er hat Martina dann untersucht und gesagt, sie sei völlig dehydriert. Sie hat von ihm einen Tropf bekommen, nur für diese Nacht und am anderen Morgen sollten wir mit ihr ins Krankenhaus. Sie müsse viel trinken.

Aber Martina ging es am anderen Morgen besser, diese Infusion scheint ihr geholfen zu haben und sie trank dann auch ein bißchen Tee. Das Krankenhaus hat sie rundweg abgelehnt und ich hatte Angst, daß sie uns wegläuft.
Heute weiß ich, daß sie uns in den nächsten Tagen nur was vorgemacht hat. Sie tat so, als ob sie viel trinken würde und aß sogar etwas Obst.

Es schien ihr wirklich besser zu gehen und so konnten wir nichts dagegen machen, als sie zwei Tage später verkündete, sie müsse jetzt wieder zu ihren Freunden. Ich bin sofort aufgesprungen und wollte es verbieten, aber sie sagte, sie käme ja bald wieder, in einer Woche oder so. Und das wollte ich nicht verderben, verstehen Sie das?

Man hört doch immer, daß man seine Kinder ganz bestimmt ins Unglück treibt und sie das Gegenteil von dem machen was man will, wenn man ihnen was verbietet.

Aber sie kam nicht wieder, einen Monat nicht, zwei Monate nicht… Ein ganzes halbes Jahr hat es gedauert, bis wir sie wieder zu Gesicht bekamen. Es war ein Samstagabend, es klingelte und als ich runterging, saß Martina unten vor der Haustür auf ihrem Rucksack. Ihr Blick war ganz leer, ihre Lippen aufgesprungen und sie war nicht ansprechbar.

Meine Frau wollte wieder Dr. Farmakol rufen, aber ich hab den Notarzt gerufen. Ja, und dann kam Martina ins Städtische. Die haben die Hände überm Kopf zusammenschlagen und gesagt, sowas hätten sie schon lange nicht mehr gesehen. Völlig ausgetrocknet. Ich sah Martina da auf dem Behandlungstisch das erste Mal ohne Oberteil. Mein Gott, die sah aus wie ein KZ-Häftling! Wie kann ein Mensch so schnell so ausgemergelt aussehen?
Alle Rippen waren zu sehen, am mageren Rücken stand jeder einzelne Wirbel heraus und ihre Arme und Beine… meine Güte, die waren dünn wie Streichhölzer.

Sie muß, so sagte die Ärztin im städtischen Krankenhaus, wochenlang gehungert haben, so als wäre sie im Hungerstreik.“

„Und daran ist sie dann gestorben?“ frage ich, doch Herr Plewka wiederholt seine Geste der Hilflosigkeit von vorhin. Er schaut mich an und sagt: „Ich weiß es nicht, ich wünsche, ich wüßte es! Es ging dann ganz schnell. Sie mußte dort bleiben, bekam eine Lungenentzündung und die eingesetzten Antibiotika haben nur bedingt geholfen. Ihr Zustand sei zu instabil, sie habe zu wenig Kraft, um gegen die Krankheit zu kämpfen. Sie ist gar nicht mehr aufgewacht.

Die Ärzte haben gesagt, daß sie sich systematisch zu Tode gehungert habe, offenbar tatsächlich im Glauben, sie könne so ihren Körper reinigen. Aber es war nicht das Hungern, es lag hauptsächlich an dem Austrocknen. Wie sagen die da? Dehubration?“

„Dehydration oder Dehydrierung“ helfe ich ihm aus der Patsche.

„Genau“, sagt er nickend, „danke. Genau das haben die gesagt. Ich kann es heute immer noch nicht glauben, daß ein gesunder Mensch so schnell so entkräftet sein kann, daß er dann an einer simplen Lungenentzündung stirbt. Ja und dort liegt sie jetzt und sie müßten Martina von dort abholen.“

FF

Fehler durch Lektorin Anya bereinigt.

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