Ich kenne Frau Lange schon seit einem halben Jahr. Normalerweise sitzt sie immer unten im Gemeinschaftsraum des Pflegeheims, wenn ich zu Besuch komme. Dort lesen wir Zeitung, singen Volkslieder oder ich erzähle ihr Märchen. Manchmal darf ich ihr den Rücken zwischen den Schultern reiben, das Sitzen im Rollstuhl ist anstrengend für sie. Heute sitzt Frau Lange nicht unten im Gemeinschaftsraum. Sie liegt in ihrem Zimmer im Bett. In den letzten Tagen ging es ihr nicht so gut, hat mir die Pflegerin gesagt. Kaffee und Kuchen hat sie abgelehnt. Tatsächlich ist Frau Lange sehr müde und schlaff. Sie liegt im Bett und döst vor sich hin. Aber ich soll trotzdem bleiben, sagt sie.
Ich sitze also an ihrem Bett, erzähle manchmal ein bisschen, aber schweige vor allem viel und streiche ihr manchmal über die Hand. Das scheint gerade das Richtige zu sein. Nach einer Weile kommt plötzlich Leben in sie. Sie richtet sich ein wenig auf und hat einen so klaren Blick, wie ich ihn noch nie bei ihr gesehen habe. Diesen Blick richtet sie an die Zimmerdecke schräg hinter mir und lächelt erfreut. Mir läuft es für einen Moment kalt den Rücken runter. Hier passiert gerade etwas Besonderes, das ist deutlich zu spüren. Weiterlesen