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Zeugnisse – Da scheiss ich drauf!

Er sitzt vor mir, trägt eine Jeans, die er auf dem Müll gefunden haben muß, jedenfalls ist sie vorne schon ganz abgeschabt und hat überall kleine Risse, er kaut an seinen Fingernägeln und wenn ich mir seine Finger recht betrachte, frage ich mich, was er da noch knabbert.
Er ist 18 Jahre alt, will unbedingt Bestatter werden, weil er das „cool“ findet und weil er „mal voll die fette Kohle“ verdienen will. Er nennt sich Hobo und möchte, daß ich ihn auch so nenne, obwohl seine Zeugnisse und sein zweizeiliges Bewerbungsschreiben ihn als Klaus-Jürgen ausweisen.
Nach einem schrecklichen Unfall mußten ihm die Ärzte eine Schraubenmutter ins Ohrläppchen einsetzen, der arme Junge; sie haben es aber gut gemacht, die Schraubenmutter sitzt perfekt und wenn Hobo redet und seinen Kopf wendet, scheint manchmal die Sonne durch sie hindurch.
Ungeniert kratzt er sich am Skrotum, zieht die Nase hoch, daß es nur so gurgelt und schaut sich dann suchend um. Hoffentlich sucht er nicht nach einem Eimer oder einer Ecke, um das Hochgegurgelte zu entsorgen. Er schluckt es, das sehe ich an der Würgetätigkeit seines Adamsapfels.

Hobo will Bestatter werden, nennt mich nach drei Minuten schon jovial „Alda“ und grinst, als ob ihm die Welt gehöre. Ja, so sind sie die jungen Leute, denen morgens schon die Sonne aus dem Arsch scheint und die unter völligem Realitätsverlust leiden. „Ne Ausbildung wär nix für mich, wegen all dem Streß und so“, sagt er, schlägt die Beine übereinander und ich habe Angst, die angerissene Jeans könne reißen. Er bemerkt meinen Blick und streicht sich über die Denimschenkel: „Is’ne Designer-Jeans, 298 Euro im Outlet.“

„Die hat’s aber schon hinter sich, oder?“ meine ich nur und schaue ihn über meine Lesebrille hinweg an. „Nö, die is‘ neu, am Samstag erst gekauft, datt muß so.“

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Die Lesebrille trage ich, weil ich seine Zeugnisse studiere. Mathe 5, Deutsch 5, Englisch 5, ich kann die Aufzählung überspringen, alles Fünfer, nur in Sport hat Hobo eine Drei.
„Ist aber nicht so toll, Ihr Zeugnis“, bemerke ich.

„Zeugnisse? Da scheiß ich drauf! Deshalb will ich ja auch keine Ausbildung, so mit Berufsschule und Berichtsheft. Das ist doch voll gestrig. Ich will gleich ’nen Job, gleich anfangen und gleich Kohle verdienen. Von so’ner Vergütung kann man ja grad mal seinen Handyvertrag bezahlen. Sie ham doch watt frei, odda?“

Nein, habe ich nicht, nicht für Hobo.
Nicht weil Hobos Abgangszeugnis so schlecht ist, sondern weil Hobo sich aufführt wie ein Arsch.

Zeugnisse? Ja, da scheiß ich auch drauf. Immer schon! Aber ich tue das aus Überzeugung und ich tue es leise.
Ich schaue mir den Menschen an, ich möchte wissen, ob derjenige, der sich da bewirbt, mit mir auf einer Wellenlänge ist, in das Jobprofil paßt, ehrlich, fleißig und pünktlich ist. Das will ich wissen, nicht ob einer Integralrechnung beherrscht oder in irgendeiner Fremdsprache rückwärts deklinieren kann.

Ob ihm unser Schulsystem oder ein Lehrer ein Mangelhaft in das Zeugnis geschrieben hat, das zeigt mir doch nur die persönliche Bewertung der schulischen Leistung durch eine einzelne, subjektiv handelnde Person.
Was für ein Mensch hinter diesen Schulnoten steckt, das sehe ich doch erst, wenn ich den Menschen ein paar Tage oder Wochen zur Probe arbeiten lasse.

Deutsch muß klappen, weil Bestatter immer auch mit Sprache umgehen können müssen, auch die in der Werkstatt. Aber vielleicht ist der Proband nur an Hölderlin oder dem ‚Schimmelreiter‘ gescheitert…
Man muß den Menschen betrachten, nicht seine Noten.

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