Geschichten

Die Fee der Nacht -12-

Aus dem Handschuhfach kramte der Kriminalhauptkommissar eine verdrückte Packung hervor und musste sie ganz aufreißen, alles darin war lange schon zu Krümeln zerdrückt worden. Einen dieser Krümel nahm er heraus und hob ihn hinter der Windschutzscheibe hoch: „Siehste Ignaz, ich habe Kekse! Also Prost, alter Knabe!“
Dann schob er sich das Gebäckfragment in den Mund, startete den Wagen und fuhr los.

Die alten Brockhagens wohnten 30 Kilometer entfernt und genau zu denen wollte er. Während der Fahrt mußte Petermann über die Szene in der Villa Brockhagen nachdenken und schmunzelte. „Kekse?“ sagte er zu sich selbst, lachte und schüttelte über den eigenen Blödsinn den Kopf.
Doch in all den Jahren hatte er die Erfahrung gemacht, daß sich die Tatbeteiligten meistens ganz genau ihre Geschichten zurecht gelegt haben und es immer eine gute Idee war, sie durch absoluten Nonsens aus der Bahn zu werfen. Sie hatten sich alle möglichen Fragen überlegt und zu jeder Frage eine für sie perfekte Antwort ausgedacht. Wenn man dann fragte, ob sie einen Ameisenbären haben oder nachts nackt auf Friedhöfen tanzen, gerieten viele so aus dem Konzept, daß man dann gut nachhaken konnte.

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Das Haus der alten Brockhagens war nicht weniger feudal, als das von Nathalie, aber bedeutend kleiner. Auch die Gegend war nicht ganz so vornehm. Vermutlich wohnten die Brockhagens da schon ewig, seit der alte Brockhagen in die Politik gegangen war.
Er öffnete selbst und Petermann war erstaunt, wie bekannt ihm das Gesicht des ehemaligen Ministers vorkam, obwohl der Mann schon länger nicht mehr im Amt war und inzwischen auch deutlich älter geworden war.
„Kommen Sie herein!“ sagte Brockhagen, nachdem er einen flüchtigen Blick auf Petermanns Ausweis geworfen hatte und schloß hinter dem Beamten die Haustüre.
Im Treppenhaus rief er: „Mimi! Kommst Du mal bitte?“ und wenige Augenblicke später kam Frau Brockhagen die Treppe herunter. „Ja bitte?“

Petermann stellte sich abermals vor und das Ehepaar ging ins Wohnzimmer voran, wo sie ihm Wasser, Kaffee und Gebäck anboten. Als er die Plätzchen sah, mußte er grinsen.

„Sie haben die Ermittlungen abgeschlossen, habe ich gehört“, sagte der Minister und seine Frau saß neben ihm auf dem kleinen Biedermeier-Sofa und hatte ein eingefrorenes, steifes Lächeln im Gesicht.

„Fast“, sagte Petermann. „Es gibt da noch die eine oder andere Kleinigkeit, die ich abklären muß, dann kann ich die Akte zumachen.“

„Was gibt es denn noch? Die Sache ist doch eindeutig, unser Sohn hat sich erschossen. Das ist doch an sich schon schlimm genug, da muß man doch jetzt nicht auch noch in den Wunden herum rühren und auf den Gefühlen der Familie herum trampeln“, sagte Brockhagen und Petermann nickte: „Ja, schlimm, so was!“

Der Minister war irritiert: „Nein, ich meinte jetzt Sie.“

„Mich? Nein, Herr Brockhagen, mich können Sie gar nicht meinen. Ich trampele doch nicht. Schauen Sie hier“, sagte Petermann und hob seinen rechten Fuß: „Kreppsohlen, ganz weiches englische Gummi; ich trampele nie!“

„Sagen Sie mal, haben Sie irgendetwas getrunken?“ mischte sich Mimi Brockhagen mit spitzer Stimme in das Gespräch ein.

„Nein, Frau Brockhagen, aber ich möchte es genau so gerne, daß der Fall zum Abschluss gebracht werden kann, wie Sie. Doch ich habe eben da noch so ein paar kleine Ungereimtheiten gefunden, die ich unbedingt erst klären möchte. Sie wollen doch auch nicht, daß wir nachher Ihren Sohn nochmal ausgraben müssen oder daß ich immer wiederkommen muß.“ Er zog seinen kleinen ledergebundenen Kalender aus der Tasche seiner schwarzen Lederjacke, blätterte darin und sagt: „Obwohl… Ich hätte jeden Mittwoch Zeit.“

„Jetzt machen Sie aber mal einen Punkt!“ wetterte der alte Brockhagen los und sogleich legte Mimi ihre Hand wieder auf seine und er verstummte.
Mit leise Stimme sagte sie: „Wir wollen kein Aufsehen und wir möchten, daß unsere Schwiegertochter aus allem herausgehalten wird, sie hat schon genug durchgemacht.“

„Petermann wurde hellhörig und hakte nach: „Genug durchgemacht? Was hat sie denn alles durchgemacht?“

Es war der alten Damen anzusehen, daß sie sie beeilte und bemühte, die Formulierung schnell wieder umzustellen, um ihr eine andere Bedeutung zu geben: „Nein, ich meine, das alles hier, dieser schreckliche Todesfall hat sie sehr mitgenommen.“

„Pah, das ist nun leider mal so. Wenn irgendwo jemand stirbt und der Onkel Doktor macht kein Kreuz auf dem Totenschein, das eindeutig bestätigt, daß der Tote eines natürlichen Todes gestorben ist, dann kommen so Leute wie ich. Wir sind dafür bekannt, daß wir unbequeme Fragen stellen und Sie werden es nicht glauben, wir bekommen sogar noch Geld dafür. Ja, es ist sogar unsere Aufgabe, unser Beruf, diese unbequemen Fragen zu stellen. Es geht nämlich darum, herauszufinden, wer diesen Menschen, um den es da geht, ums Leben gebracht hat.
In diesem Fall hier geht es um Ihren Sohn. Eigentlich wundert es mich ein bißchen, daß überall gemauert und blockiert wird. Gerade Sie müssten doch daran interessiert sein, daß ich schnell und zügig den Täter finde.“

„Den Täter?“ fragte Herr Brockhagen entrüstet: „Was denn für einen Täter? Unser Sohn hat sich umgebracht!“

„Das, Herr Brockhagen, das glaube ich nicht.“

„Wie bitte? Ich habe erst vor einigen Stunden mit dem Staatsanwalt gesprochen und mir wurde versichert, der Fall sei so gut wie abgeschlossen und es handele sich aus Sicht der Polizei eindeutig um eine Selbsttötung.“

„Ja, genau das sage ich doch. Der Fall ist so gut wie abgeschlossen, aber eben nur so gut wie. Dieses so gut wie, das bin ich. Und solange ich meinen Bericht nicht geschrieben habe, kommt da kein Erledigungsstempel drauf.
Und auch wenn einige meinen, das könne ein Selbstmord gewesen sein, ich bin da anderer Meinung.“

„Was stimmt denn an dem Fall nicht, daß Sie noch zweifeln?“ fragte der Minister und Petermann stand auf, ging einige Schritte im Zimmer herum, blieb dann vor dem Ehepaar stehen, beugte sich etwas vor und sagte etwas leiser: „Alles.“


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Geschichten

Die Geschichten von Peter Wilhelm sind Erzählungen und Kurzgeschichten aus dem Berufsleben eines Bestatters und den Erlebnissen eines Ehemannes und Vaters.

Die Geschichten haben meist einen wahren Kern, viele sind erzählerisch aufbereitete Tatsachenerzählungen.

Die Namen, Geschlechter und Berufe der erwähnten Personen sind stets verändert.

Lesezeit ca.: 7 Minuten | Tippfehler melden | Peter Wilhelm: © 19. Mai 2012 | Revision: 3. September 2012

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Engywuck
12 Jahre zuvor

wenn ich 5 Euro spende – kommt der Rest dann in einem Stück?

Ach, sagen wir 10, dann ist auch ne neue Packung Kekse für den Kommissar drin….

hajo
12 Jahre zuvor

Tom, ich habe gerade mein zweites Päckchen Kekse aufgemacht und jetzt hörst Du wieder „mittendrin“ auf
.. willst Du wirklich, dass ich noch mehr zunehme? 😉

Sascha
12 Jahre zuvor

Hallo Tom, zwei Flüchtigkeitsfehler: Ameisenbäben und im 4. Absatz ist einmal „bekannt“ zuviel…ansonsten: lass Dich nicht aufhalten…:)

lalelu
12 Jahre zuvor

Nur zwei? Ich hätte da noch „daß sie sie beeilte“ -> „daß sie sich beeilte“ im Angebot…

…. irgendwas muß man ja tun, wenn man an der Klippe hängt, da kann man auch Rechtschreibfehler suchen ;-D

Winnie
12 Jahre zuvor

Recht so, alles muss von rechts- und linkswegen seine Rechtschreibrichtigkeit haben.
Lasst euch kein Y für ein abgebrochenes X vormachen.;-)

TickleMeNot
12 Jahre zuvor

Huh, jetzt wirds aber spannend.

Wieso sind eigentlich die Kekse des Kommisars alle so zerdrückt? Normalerweise ist so ein Handschuhfach doch gross genug um da mehrere Kekspackungen drin aufzubewahren.




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